Obstbaumpflege Schöpf

Berlin

Carl Sternheim
Berlin oder Juste Milieu

Carl Sternheim: Berlin oder Juste Milieu, München: Kurt Wolff Verlag, 1920, Titelbild auf Schutzumschlag (Nachzeichnung 2017).
Titelbild auf Schutzumschlag, Kurt Wolff Verlag München, 1920, Erstes bis fünfzigstes Tausend (Nachzeichnung 2017)

1

Berlin als des über Frankreich siegreichen deutschen Reichs Hauptstadt war in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts doch nur eine kleinstädtische Angelegenheit.

Nie seit seiner Gründung hatte es zu mehr als einiger politischer Repräsentanz preußisch-brandenburgischer Könige und ihrer Armeen getaugt, weder wirtschaftlich, wissenschaftlich oder gar künstlerisch war dort das Geringe aufgetreten, was Deutschland besonders anging. Denkerischer Anstoß war von Königsberg und Jena, Künstlerisches von Weimar gekommen, und für wirtschaftliches Gedeihen und Geldwirtschaft waren Frankfurt, Hamburg und Leipzig mehr als Berlin maßgebend gewesen.

Was bescheiden sich dort an Geistigkeit ereignete, geschah als auf einer Etappe nach dem großen östlichen Zarenreich. Irgendwo mußte man von Paris nach Warschau, Petersburg oder Moskau unterwegs verschnaufen, Wechsel ziehen und sich bedenken. Da lag auf halbem Weg mit guten Gasthäusern Berlin bequem.

Der Gäste Hauptstrom, der in den kahlen märkisch-niederfränkischen Atem Abwechslung brachte, bestand aus Russen und Juden. Westländer kamen kaum und nur, wenn sie mußten. In Berlin fand der Russe nicht, was er auf Reisen schließlich suchte. Froufrou und galante Frauen. Und beeilte seine Durchreise. Der Jude ahnte manches, das ihn reizte, blieb oft und nahm teil.

Abgesehen von diesen beiden Berlin in etwa befruchtenden fremden Elementen, gab es ein drittes, das in vorigen Jahrhunderts zweiter Hälfte besonders nicht unwirksam war, Familien französischer Einwanderer. Die bildeten eine Kolonie, mit stärkerem Bewußtsein, feineren Sehnsüchten, geschmackvollerer Empfindung der Offizier- und Beamtenwelt Phantasielosigkeit und Traditionstreue durchsättigend. In ihren Stuben gab es Bücher, Büsten und Bilder, Andenken, bric a bracs auf Tischen. Sie sorgten für Liebesklatsch, Sensationen, chronique scandaleuse und médisance.

Es wurde großes literarisches Ereignis, als einer ihrer Abkömmlinge aus seelischem Abstand Wertvolles bester Preußenfamilien ins Licht rücken und die melancholische Hübschheit der Landschaft um Berlin rühmen konnte: Fontane. Aus seinen Büchern sah Berlin die führenden adeligen Geschlechter in Lebensansprüchen bescheiden, beharrlich im Ruhmesanspruch. Wie sie mit kleinem geistigen Gepäck Hand am Schwert, Wilhelm dem Ersten und Bismarck zu unbedingter Verfügung Gott fürchteten und sonst nichts auf der Welt.

Der Kaiser badete in einer Holzwanne, die Mittwochs und Sonnabends vom Hotel de Rome in sein Palais gerollt wurde, zu Hofbällen der achtziger Jahre fuhr in weißen gestärkten Leinwandhosen und Lackschuhen der Gardeleutnant Pferdebahn; Komtessen und Baronessen in Gummischuhen, die Tourschleppen aufgehoben, kamen zu Fuß über den Opernplatz. Der Reichskanzler lud Parlamentarier und Regierende zu Bierabenden. Bei frugalen Abendbroten sprach man Jagd, Manöver, Armeeverordnungsblatt und uradeliges Taschenbuch. Ein Fünfzigpfennigstück war Trinkgeld der Bedienenden und so.

Gesellschaftsfähig war nicht einmal der Großkaufmann aus westlichen Provinzen. Der lebte zu Haus in Plüschmöbeln und Gipsbüsten mit Hinz und Kunz muffiges Bürgerklischee, und kam er in Geschäften in die Hauptstadt, sah er die kaiserliche Familie und politische Häupter nur ausgestopft in Kastans Panoptikum oder von enger Terrasse der Kranzlerschen Konditorei, auf der seine Damen Schlagsahne aßen, er Portwein oder Kraftbrühe trank; in Siechens Bierhaus, bei Habel oder im Niquetschen Wurstkeller sah er Berühmtheiten bei Fraustädter Würsten und Kulmbacher am Nebentisch.

Seinen Respekt vor herrschenden Geschlechtern zu mehren, war dem Palais des Kronprinzen gegenüber das Zeughaus errichtet, in dem Trophäen aus vielen Jahrhunderten, von Köckeritzen, Itzenplitzen, Rochows und Bredows oder vom Schwertadel erbeutet, aufbewahrt wurden; vor denen er am regnichten Morgen oder im Mausoleum Charlottenburgs am Sarkophag der weiland Königin Luise als Laie staunte und sich rühren ließ; welches Gefühl er vor Menzels Bildern aus Friedrich des Großen Zeiten noch vermehrte. Leben war auf der Straße „Unter den Linden“ und um den Gensdarmenmarkt, wo man viel Schiller und selten Heinrich von Kleist gab, der als revolutionär galt, soweit ein Preuße es vertragen konnte.

Bei schönem Wetter machte man in bekränzten Kremsern, in deren Mitte unten zwischen Rädern ein Fäßchen Bier hing, nach Wannsee, Potsdam oder an die Spree nach Treptow und Eierhäuschen Landpartien. An Kartoffeläckern vorbei schlurfte man durch tiefen Sand, und einige föhrenbewachsene Hügel, märkische Schweiz genannt, waren das fernste Wanderziel, an dem man mitgebrachten Kaffee kochte, Berliner Pfannkuchen aß und gegen Abend hinter kaum deckenden Baumstämmen Mädchen küßte.

Bismarck im Kürassierhelm über puppigem und popottigem Alltag war Symbol der Größe und Macht. Neben ihm in Infanterieuniform liebte ein alter Kaiser, der keiner Fliege etwas tat, Blumen, wie es ausdrücklich im Volkslied hieß.

Wohlanständigkeit, die sich bei Wallner und Kroll Theater, Musik in der Singakademie von Bülow und Joachim vormachen ließ, litt Ansätze zu kostspieligerer, großstädtischerer Lustigkeit. die die Söhne der Kriegslieferanten von 1866 und 1870 versuchten, nicht, und diese ohne große Temperamentsausbrüche fügten sich gewünschter Mäßigung.

Im allgemeinen ging also in Berlin nichts als korrekte und bedächtige Ausnutzung reichlich errungener Kriegsvorteile für die herrschende Schicht vor sich, wobei nicht zu vermeiden war, daß es auch der gesamten Bevölkerung einigermaßen gut zu gehen anfing, der man mit einem Stralauer Fischzug. einem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß und einer Silvesterfeier mit eingetriebenen Zylinderhüten noch ein paarmal im Jahr Zügel schießen ließ.

Im übrigen wurde Außen- und Innenpolitik im Gehrock und der aufkommenden Importzigarre mit Aufwand eines großen Ideologievorrats und ritterlicher Phrasen im Reichstag auch von der Opposition gemacht, die die langsam heraufkommende Sozialdemokratie war, und die nicht minder theoretisch „mit offenem Visier“, „gepanzerter Faust“‚ für Massen „eine Lanze brach“‚ die viel zu sehr noch für Sadowa und Sedan schwärmten, als daß sie sich für schwierige Parteiprobleme hätten interessieren können.

Während so die Regierung in Scheinturnieren mit Sozialistenführern, hinter denen noch keine mächtige Gefolgschaft stand, Rasse und Schneidigkeit vor aller Welt bewies, der Arbeiter in allgemeinem Wohlstand fette Jahre hatte, lernte aus Programmen der Genossen und ihren Erläuterungen Marxscher und Engelsscher Imperative fast wider Willen der Arbeitgeber, um was es eigentlich im Sozialismus ging, und wie er unter Vermeidung offensichtlicher Dummheiten die in seine Hand gegebenen Scharen großzügig für viel weitere Zwecke als bisher ausnützen könnte.

Die dem Proletarier mählich aufgedrängte höhere Wichtigkeit, sein Deutlichwerden im Wirtschaftskampf machte an ihm bisher verborgen gebliebene Schwächen und Verlegenheiten dem Herrn kund, der nunmehr ein seit Ewigkeiten verschlamptes patriarchalisches Verhältnis zwischen Brotnehmern und Brotgebern zu seinem Nutzen in Ordnung renkte, wogegen die Volksführer geharnischt platonisch aufbegehrten. Welche Proteste der Regierung für ein Sozialistengesetz Vorwände gaben. das sich gewaschen hatte.

Bevor also zwischen arm und reich die Kluft kraß geworden war, machte man sie schon zum Hebel aller politischer Zwecke. Furcht vor Sozialismus wurde nicht nur das Mittel, mit der die Regierung einen lauen Mittelstand zu ihr genehmen Zwecken zwang, sondern auch Vorwand, unter dem eine plötzlich auftauchende energische Schaar Ausbeuter der Regierung immer neue Vorteile für sich gegen den Arbeiter abtrotzte.

Immerhin deckte Ruhm der noch repräsentierenden Generation, Triumph aus drei gewonnenen Feldzügen Berlins sonstige Interessen zu. Wichtiger als ein Arbeitsloser war der lnvalide mit Ordensschnalle; erst in Uniform bettelte man mit Erfolg. Hauptsächlich der Stelzfuß und Einarmige drehten Orgeln, und zweifarbiges Tuch ließ auf Tanzböden anders als feschestes Zivil die Mädchenherzen schlagen.

Am historischen Eckfenster unter den Linden war der weißbärtige Kaiser eine Sache, gegen die Ballonmützen nichts über die Phantasie der Berliner vermochten.

Erst mit seinem Tod und Friedrichs III. Thronbesteigung rührten sich in der Gegend des Tiergartens bürgerliche Familien aus ganz anderem als preußischem Stamm zu größerem Geltenwollen.

Denn schon vorher war bekannt geworden. der neue Kaiser kannte für seine Person durchaus keine Abgeschiedenheit gegen andere als offizielle Kreise. Unter dem Einfluß freierer Ideen seiner englischen Frau sollte er mit Häuptern reicher, besonders jüdischer Familien verkehren, die es mit dem allgemeinen Heraufkommen largerer Grundsätze für an der Zeit hielten, sich durchzusetzen. Der Name Mendelssohn tauchte wieder auf; Bleichröder. Man sah den Prinzen Georg von Preußen bei Meyerbeers Nachkommen. Der erste Jude hatte seinen Rennstall.

Doch besaß über Romantik eines traurigen Sterbens des kranken Herrschers noch immer nichts als Teilnahme am Schicksal der Dynastie in der Hauptstadt wirkliche Geltung, und noch weitere drei Monate lebte man nur mit Kaisers prachtvollem Bart liebevoll beschäftigt.

Mit Wilhelms II. junger Person brach wie für das Reich in Berlin mit einem Schlag neue Wirtschaft an.

Die Sozialreform, die unter den verstorbenen Herrschern keinen Sinn gehabt hatte, als den Arbeiter durch Sicherung vor wirtschaftlichen Gefahren, Krankheiten, Betriebsunfällen, Alter und Arbeitsunfähigkeit für den Begriff der Rente als eines bürgerlichen Gedankens empfänglich zu machen, ihn durch kapitalistische Sicherungen besitzender Gesellschaft zu verbinden und ihm am Nationalwohlstand ein dauerndes Teil zu sichern, hatte ihm daher auch nicht ohne einigen Zwang aufgehalst werden können, wovon solches Vorwort für das Gesetz der Krankenversicherung der Arbeiter Zeugnis gibt:

„Es ist eine allgemein beobachtete Erfahrung, daß Wohltaten, welche jemandem aufgezwungen werden, nicht leicht als solche empfunden und anerkannt werden. Noch viel mehr muß das aber dort der Fall sein, wo zwischen demjenigen, zu dessen Nutzen etwas wider seinen Willen geschaffen werden soll und demjenigen, der es ihm anbietet, eine, wenn auch nur künstlich geschaffene Feindschaft besteht Es darf daher nicht wundernehmen, wenn dasjenige, was das Reich, der Staat durch das Reichsgesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883, den lediglich auf ihren persönlichen Arbeitsverdienst angewiesenen und ihm zum großen Teil feindliche gesinnten Arbeitern an nützlichen und ihrem Interesse geschaffenen Einrichtungen aber zwangsweise anbietet, von ihnen nur widerwillig und unter Protest angenommen ja sogar auf das schärfste bekämpft wird.“

Nicht etwas persönliche Begabung und Tatkraft des neuen Herren waren es, die das andere Berlin und neuem Zeitalter Bedeutung schufen, sondern zufälliges zusammentreffen ließ um das Jahr achtzehnhundertneunzig etwa eine Bewegung gipfeln, die seit Jahrhundertanfang in aller umgebenden Welt, jedem Deutschen und endlich auch dem Berliner deutlich geworden war.

Auf verschwindende menschliche Freiheitsrechte, dem Durchschnittsdeutschen aus früheren Jahrhunderten gelassen, hatten Kant und sein volkstümlicher Erläuterer Schiller in dem Sinn einen letzten Angriff gemacht, daß wie natürlich alle Vernunft, von ihnen auch mitmenschliches moralisches Verhalten in Befehlsform, Kants kategorischen Imperativ gefaßt worden war, nach welcher fortan Behörden ein aufmerksames und williges Volk leben ließen, bis Hegel lehrte, persönliche Kontrolle, eine gewisse beibehaltene eigene Verantwortung des einzelnen. Befehlsformen und Kommandos gegenüber sei überflüssig, weil Natur von sich aus nur Wertvolles, zweckmäßiges und Notwendiges vernünftig unter allen Umständen entwickelt, und man sich ohne Nachdenken und eigene Meinung ihren Phänomenen zu fügen und sich in sie einzufühlen habe.

Auf dieser kritiklosen Voraussetzung hatte Karl Marx noch darüber hinaus behauptet, jeden freien Mannes Leben bedeutet nur seine Erziehung für das Ziel, als Notwendig und Diktatur der Natur einsehen zu können, was ihn bisher als nur „Tatsächliches“ nicht ganz befriedigt hatte.

Damit war über das vernünftige und selbstverantwortliche Individuum zu dem Zweck der Stab gebrochen, daß „Massen“, die Natur als Rohstoff produzierte, auch als notwendig letztes Ziel der Schöpfung von jedermann erkannt, und ihren Schicksalen der Nation und Menschheit ganzes Interesse verhaftet wurde.

Darwins Entdeckung, der Mensch stamme geradewegs und strikt vom Affen ab, jedes Embryo entwickle sich unbedingt wie das andere gleichermaßen und wie später der Mensch um so besser, je weniger individuelle Abweichungen es zeige, mußte in Deutschland zuletzt den Berliner überzeugen, der sich nicht nur als Hauptstädter, sondern als außerordentliche Rasse hervorragend begabt und unvergleichlich geglaubt hatte, was in seinem Leib- und Magenlied:

In Berlin, sagt er
Mußt du sein, sagt er
Und gescheit, sagt er
Immer sein, sagt er

Denn dort haben’s, sagt er
Viel Verstand, sagt er
Und dort bin ich, sagt er
Schon bekannt, sagt er

zum Ausdruck gekommen war.

2

Zwei unmittelbare Folgen hatte die Erkenntnis: Maschinen, in die als Symbole das Prinzip der unbedingten vernünftigen Gleichartigkeit verkörpert war, wurden an Stelle unexakten störrischen Handwerks besonders des hellen Berliners Stolz und Freude und veränderten schnell alle gewerbliche Produktion. Wer im Besitz von Kapital Maschinen kaufen konnte, ging zu Groß- und Massenbetrieb über, der ihn mit Entzücken erfüllte, weil er „Natur“ folgte, und vor dem sich der unbemittelte Handwerker genau so konkurrenzunfähig zeigte, wie einer, der wie Stirner auf geistigem Gebiet Besonderes wollte, Männern wie Harckel und Bölsche gegenüber.

Dazu aber begann nach der Lehre von vernünftiger Anpassung der bis dahin unbedingte Unterschied erstens zwischen Gesellschaftsklassen und dann dem geborenen und nur zugereisten Berliner zu schwinden, so daß man wenige Jahre darauf schon mit Recht behaupten konnte, was ein echter Berliner sei, der stamme aus Breslau.

Also erkennen wir mit Wilhelms II. Regierungsantritt eine neue, besonders aus Polen und Galizien ankommende Bevölkerung Berlins, die sich doppelt zeitgemäß einstellte, proklamierte sie durchaus Natur und nicht menschliche Wertgesetze und machte ihr unter diesen das des überall gezeigten Kampfs ums Dasein ohne Rücksicht auf besonders wertvolle Wege und Ziele des einzelnen größten Eindruck.

Da alle Menschheit diesen nie unterbrochenen Kampf ums Dasein als von vernünftiger Schöpfung gewollt glaubte, war der neue Berliner, unter dem es immer mehr Juden gab. weil ihm das Gesetz unter eingesessener Bevölkerung Rechte verlieh, in ihm alsbald an der Spitze und machte mit ihm auf neue Art den „Kiebigen“.

Der Kaiser hohenzollerisch streng, aber im Haus vorurteilsfreier Eltern erzogen, hatte wenn kein Urteil doch Witterung für das, was in der Zeit vorging. Zu der in ihm verwurzelten Gewißheit von seines Hauses Auserwähltheit, die er im Großvater leuchtend verkörpert gefunden hatte, mußte das Persönliche in ihm, sollte es sich gegen ruhmreiche Preußentraditionen, die einen Gipfel erstürmt hatte, behaupten, ein Zeitgenössisches, etwa Friedrichs II. Wahlspruch in neuer Form so variiert sein: Wir Wilhelm, aus unseres Amts Gewicht nicht nur der mächtigste, aber auch anpassungsfähigste Mensch im Reich.

Ein Genie auf dem Thron hätte aus solcher Wahrnehmung Weg und hohes Ziel gefunden. Eine Begabung, wie dieser Hohenzoller, mußte tragischer als Durchschnittliche auf gewöhnlichen Plätzen den Kampf zwischen seiner unbescholtenen Zeitlichkeit und einer ihm von allen Seiten empfohlenen erstklassigen Überlieferung in eigener Brust durchkämpfen.

Daß er ihn mit einigem Bewußtsein überhaupt gekämpft hat und ihm nicht wie die meisten seiner Zeitgenossen und besonders die Berliner im Gewissen von vornherein ausgewichen ist, stellt ihn trotz schließlichen Unterliegens auf mittlere menschliche Linie.

Ursache, daß er gleich nach Regierungsantritt diesen Kampf trotz Hemmungen suchte, war Bismarck, der als Zyklop den Wall der durchs Schwert bewachten Standesvorrechte bewachte, und über den in diesem konservativen Sinn der Herrscher nicht hervorragen konnte.

Das moderne Gefühl: ich kann auf keine andere Weise mich auszeichnen, als wenn ich als Mitmensch besonders gut angepaßt bin, zerstörte jedes Bedürfnis der Isolation, indem im Gegenteil Vorstellung derer, mit denen ich ringend lebe, vom Kampf ums Dasein unzertrennlich, ja dessen Voraussetzung ist. Bismarckischer Geist klugen Sichbegnügens und Zurückweisens, um keinen Reiz und keine Reibungsfläche zu schaffen, mußte dem Bedürfnis weichen, ständig in Beziehungen und auf der Walstatt zu sein, auf der man durch möglichst wache Instinkte im Bild war.

Der Kaiser, statt den gekränkten und sich in Rachegelüsten verzehrenden westlichen Besiegten oder die rings schon argwöhnischen Nachbarn zu schonen, hatte aus der Epoche viel zu unbedingte Überzeugung, trotz aller politischen Finten sei die zu unerbittliche‚ als daß ihr echtester Sinn von Menschen verdunkelt werden konnte, und Gebot sei es, diesen Sinn zu suchen, statt ihm auszuweichen, rempelte ohne Rücksicht auf die Meinung seines wie alle Welt von Bismarck verschüchterten Volks, diesen nicht in Nebensachen, sondern in seiner entgegengesetzten heiligen Überzeugung an.

Kein Zweifel, der Elan, den er im Anfang hatte. der die meisten entzückte und eine Welt in höheren Atem setze, war nicht gewöhnliche Eitelkeit aber des Zeitmenschen reine Notwendigkeit, seinen Platz an der Sonne dadurch zu behaupten, daß er zusah, was überall unter der Sonne wirklich geschah und wohin sie nächstens scheinen wollte. War unbedingt das noch nicht für Kant doch für Darwin geltende Bewußtsein, Welt ist wirklich von sich selbst aus, und nicht des Menschen Brust in erster Linie, nicht einmal die eines deutschen Kaisers sei Schauplatz wesentlicher Welthandlung doch der ganze Erdenplan.

Er wußte und sagte das, auch zu Bismarck nicht, gebildet, sagte es in dem geschwollenen Phrasendeutsch, das man in Berlin, ist man nicht im tätigen Affekt, sondern will eine Lippe riskieren, spricht, und das eine Sache, die man schon besser gefühlt hat, zu verdunkeln geeignet ist; und er illustrierte seine wirre Meinung durch allerlei ebenso zweideutige, phantastische Handlungen. Aber er wollte im allgemeinen Richtiges.

Sein Verhängnis war, daß es in Berlin keinen einzigen Mann gab, klug genug, ihm zu sagen, was er eigentlich wollte, weil Berliner, Politiker, Gelehrte und Künstler zwar sehr lebhaft durch alles mögliche bewegt aber grenzenlos ungebildet waren. So sehr, daß mir Berlins und auch Deutschlands gefeiertster Dramatiker einst wörtlich erklärte, sein Stolz sei, kaum eines Ausländers Buch zu kennen.

Berlin nach seines obersten Herrn Beispiel schien alsbald von diesem Zeitgeist bis in Fingerspitzen besessen und verachtete gerade so beharrlich Überkommenes, wie es es früher verehrend festgehalten hatte. Glück, im großen und ganzen nicht entscheiden, nur dabeisein zu müssen, Rausch, oberflächlichen Genusses und der Verantwortungslosigkeit in einer Welt, in der Wesentliches aus Natur schon vernünftig war und immer wurde. befiel jedermann. Grenzenlos frei glaubte man such in einem vollkommenen Ensemble, in dem man ganze Kraft an das, was Freude machte, das Geschäft wenden durfte.

Diese Weltanschauung und ihre Folgen kann man nicht klar genug vor sich hinstellen, weil sie Basis alles in Zukunft von Berlin ins Reich ausgehenden Anstoßes ist: Der Mensch, in gewaltigen unentrinnbaren Naturmechanismus gefesselt, ohne Rest eigener Aktion im Entscheidenden, betäubt sich innerhalb starrer Scharniere durch Fessellosigkeit, die ohne Beispiel ist. Jäh sieht man Verwandtschaft zur Marionette. Holt er riesig aus, bleibt es gleichwohl ein Schlenkern, weil er schließlich ins gefügte Gelenk zurückbricht. Predigt, ruft er mit Worten an, ist es ein Lallen, weil letzter Begriff, ein Urteil vorher gesetzt war.

Habt ihr es nicht alle mit mir bemerkt? Hinter noch so forscher Geste, keckem Wort hob als lächelnder Schatten sich steil eine eherne Wirklichkeit, die es zum Witz, zur Metapher schlug. Nichts mehr zu gestalten hatte im Grund ja der Mensch, nur aufzupassen und sich Ereignendes mit einem Schlagwort zu prägen. Wer da zuerst kam, war großer Mann. Nichts mehr erfand man, nur noch Erläuterungen zu Tatsachen fand man; hundert Kompendien, Lexika, Glossen, Anmerkungen zu Phänomenen der Natur.

Über diese natürliche Tat, des Kaisers jungen Aufstand gegen Bismarcks alternde Treue stürzte sich ein Heer Schreibender, die sie für die Welt zerkaute, daß sie wie alles andere „Geistige“ schleimiger Brei und Klischee war, ohne Anstrengung zu verdauen.

Berlin machte also in Pseudoindividualismus, der die größte menschliche Pleite schon damals war, als man mit ihm noch Riesengeschäfte schob. Denn man begann Geschäfte zu machen. Das war ja der Nutzen dieser „Philosophie“. Nachdem man doch für allen Kern der Existenz ohne Verantwortung war, konnte man gesamte Kraft ins Geschäft werfen.

Der Kaiser selbst, nachdem er den einzigen Fels des Anstoßes, der ihn an voller Fahrt und Volldampf voraus gehindert, aus dem Weg geräumt hatte, entbremste sich in den Strom von Angelegenheiten, und es war klar, er brauchte dabei andere Mitläufer und Helfer als den verharrenden Adel, der Kohl baute und zur Kirche ging.

Da neben der Natur einziger Bedeutung als Schöpferin eine andere Größe nur zahlenhaft sichtbar werden konnte, wurde in allen Betrieben, wie schon in der ursprünglichen Zeugung die Masse, hohe Ziffer das Venerabile. Überall Statistikentaumel. Geschäft, Armee, Flotte, jedes öffentliche und private Unternehmen auf ziffermäßig hohen Stand gebracht; die Million als Leistung, Kalkül als Tatkraft gepriesen.

An Stelle der Universität, die in Berlin bis dahin wenigstens pro forma öffentlichen Lebens Erregerin geblieben war, traten die Deutsche Bank und die A.E.G., für Virchow und Mommsen, Koch und Rathenau als Direktoren auf. Statt zu seelischen Andachten ging man zu Wertheim und Tietz.

Wie bei Anträgen und Protesten der Sozialdemokraten nichts als Masse vertretener Wähler Eindruck machte, hatte alle wirtschaftliche oder geistige Unternehmung nur Erfolgsaussichten, kam in ihr ein hoher Nenner vor. Kirche gab in Berlin ihre Rolle an die Börse ab. Auch der Kaiser mußte über den Dom fort zur anderen Spreeseite schielen.

Soweit der Adel ohne strenge Grundsätze war, und er wurde es täglich mehr zu immer größeren Teilen, begriff er gleichfalls schnell, was ihm mehr als Frömmigkeit frommte: seiner Söhne Heirat mit Töchtern des Kapitals. Die Borsigs, Mendelssohn, Hainauer mischten sich purem Uradel. Nicht unbedingt mehr war ein Schwerin, ein Zedlitz Antisemit.

Auch Wilhelm II. nicht. Wie konnte er’s? Wohin er jetzt auf eigenstem Gebiet, in diesem Reich gigantischer Zahlen, auf den Tisch gehauener Fäuste, der Sensation und Spekulation trat, traf er Juden an der Spitze neuen Unternehmens, die gute Berliner geworden waren, und verließ er sein Haus, grüßten ihn rechts und links nicht mehr nur Zeughaus, Kommandantur und des alten Kaisers Palais, sondern Darmstädter, Dresdener Bank und Diskontogesellschaft. Der alte David Hansemann sollte Genie so gut wie Moltke sein, und so stand ihm ein „von“ am Namen zu wie jenem.

Auch im übrigen Stadtplan Berlins triumphierte ohne Rücksicht auf Platz und künstlerisches Verhältnis als Neubau die große Nummer. Weinhäuser und Warenhäuser wuchsen mit Mietskasernen in Beton und Gips um die Wette, Bank-, Industrie- und Vergnügungspaläste erwürgten das Privathaus. Bis weit in die märkische Wüste stellte man mit dem Lineal gezogene kilometerlange Gebäudereihen auf, geradeso über den gleichen Leisten geschlagen, wie nun die Bewohner schon über einen Leisten geboren und erzogen wurden.

Da Zahlenmäßiges unbegrenzt ist, gab es jeden Tag neue Rekorde des Kolossalen. Durch Netze elektrischer Bahnen zerlegte der Berliner seine weitläufig gewordene Stadt, zerschnitt sie durch Automobile. Wie in sich selbst Geratter brauchte er äußeren Knatterns und Stampfens Schall im Ohr. Begriff von Dampf, Spannung und Ventil, durch das ein angestauter unmäßiger Druck entwich.

Dafür, daß er nichts Wesentliches, Elementares mehr miterfüllen durfte, wollte er, ein enttäuschtes Inneres zu betäuben, Radau und rauchigen Klamauk.

3

In jeder Lebensäußerung pflegte er das Quantitative.

Politik bekam wie Übriges die Pointe einer Wirkung auf Menge, die ziffernmäßige Kraftleistung unter allen Umständen verlangte. In einer Atmosphäre des Einanderübertrumpfens hatte kein gründlich großes Wollen doch augenblickliches Gelingen Platz. Man verlor nicht nur den universalen Blick, man durfte ihn neben alles leistender Natur nicht haben, der man nicht mehr kritisch nur technisch angeschlossen war, sondern mußte sich innerhalb eines Gegebenen mit Trick und Kniff begnügen. Daher konnten Männer voll Entschluß, mit eigenen Notwendigkeiten in dieser Zeit nichts bedeuten. Es sollte nichts geführt, nur schlau sich angepaßt werden, und drei Jahrzehnte mit einer Reihe unfähiger Politiker in allen Ministerien Berlins bewiesen nicht, es gab dort damals keine politischen Köpfe, sondern sie waren nicht am Platz und mußten schweigen.

Wie er selbst nur bluffte, berief der Kaiser Chamäleone und Charlatane, die das Staatsschiff von Fall zu Fall um Riffe plötzlich daseiender Krisen führten und hinterher, war die Fahrt geglückt, ihren Scharfblick preisen ließen, sonst sich auf blinde und grausame Notwendigkeit beriefen. Wie man in Wissenschaften mit Mikroskopen über Mikroben lag und nur deren biologische Wirkung fixierte, beobachtete man das Herankommen politischer faits mit Fernrohren, nicht um ihnen einen Sinn zu geben und ihn vielleicht ändern zu können, sondern natürliche Notwendigkeit in ihnen festzustellen, der man sich zwar nicht blindlings beugte, ihr aber geschickt und möglichst chancenreich sich anpaßte.

Das Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße, aus dem der trotzige Bismarck in den Sachsenwald und einsames Sterben abgeschoben war, belebte sich mit einem Geschlecht von Kautschukmännern und Schlangenmenschen, die auf Seilen tanzend und Männchen machend, zu keiner eigenen erhabenen Absicht und keinem Heil der Nation aber zu persönlichen großen Erfolgen, Ordensbändern und höherem Ruhm des obersten Kriegsherrn führten, vor dem auch sämtliche Bundesfürsten immer mehr im Staub krochen und parierten.

Ich glaube nicht, daß es heute in Deutschland noch Menschen gibt, die es zu wissen interessierte, aus welchen spitzfindigen Psychologien leitender Männer deutsche Politik von 1871–1914 im einzelnen gemacht worden ist. So sehr steht heute der Vernünftige diese vierzig Jahr Zickzackkurs als einen einzigen erhabenen Blödsinn, ohne zu wissen warum, ein; aber in seinem Unterbewußtsein befestigt sich immer mehr Gewißheit, schlechtgemachte Politik war nur repräsentativer Ausdruck für ein ganzes verpatztes Dasein.

Hätte man jenen Männern, die noch warm vom Glase Morgenwein in hohem Hut, schwarzem Rock, Mappe unterm Arm in die verschiedenen Staatssekreteriate oder den Reichstag mit geschwollenen Mienen gingen und zwischen dem Pariser Platz und ihrem Amt mit anderen Herren in Uniform oder Zylindern im Flüsterton sprachen, mit ihnen wohl auch, sicher vor Überraschung zu sein, in die Schultesche Kunsthandlung im Redernschen Palais traten, sagen können, im Dienst welcher infamen Ideenlosigkeit sie sich und eine Welt bemühten, sie hätten gestaunt und nicht begriffen.

Wem in der Hauptstadt hätte man damals verständlich machen wollen, daß viel nicht groß ist? Wem, Deutschland konkurriere nur auf einem Gebiet und komme in ihm immer mehr an die Spitze, auf dem man neue Rekorde schlagen, an wesentlich Menschliches aber nicht herankäme?

Man glaubte in der Wilhelmstraße gewiß, weit vorn vor allem Volk zu führen und hätte nie zugegeben, daß man wie noch der höchste Chef von Gedankenzwängen vergewaltigt war, die von der Kaste, die man am meisten zu verachten vorgab, Leuten im Schlapphut und fliegendem Schlips, seit langem in Umlauf gesetzt waren und sich jetzt zum System verdichteten: den Intellektuellen.

In Berlin nämlich, wo früher jeder einzelne Recht auf Gescheitheit so energisch behauptet hatte, daß in zahllosen Weißbierkneipen Parlamente kannegießender Geister neben dem Parlament getagt hatten, wo solche Couplets dem Selbstbewußtsein des gemeinen Manns entsprochen hatten:

Ich bin Soldat, die Disziplin liegt mir im Blute,
Im ganzen Heer gibt's keinen strammren Unteroffizier,
Ich habe Moltke schon gedrillt, als der Rekrute,
Und was der hat, das hat er alles nur von mir.

War, als einmal des Menschen und sogar des Berliners Nichteignung für wirklich elementare Entschlüsse feststand, immer mehr wie in jüdischen Gemeinden des Ostens der Brauch aufgekommen, während man sich selbst nur auf sein verhältnismäßiges Wohlergehen einstellte, eigentliches Denken innerhalb kanonischer Gewißheiten, primäre geistige Empfängnis einer sich ausschließlich diesem Geschäft widmenden Klasse zu überlassen, die sich ihrerseits von einer gewissen Sorte Frauen in diesen weiblichen Beruf einführen ließ, und von der man Wissenswertes auf dem Weg des Gedruckten bezog.

Auf allen Gebieten durchgeführte Arbeitsteilung forderte kategorisch, man kümmerte sich, in seinem Bezirk ständig frisch zu sein, nicht selbst um Dinge, die einen nur mittelbar betrafen, sondern nahm sie dort, wo man gewiß war, mit kleinsten Kosten prima Ware zu bekommen. Darin hatte stets viel von des Berliners Findigkeit bestanden, daß er, wo das Beste los war, schnell gewußt hatte.

Dies ist das zweite Moment, das gut gekannt sein muß, will man, wie Berlin zu seinem heutigen Gesicht, das wir später genau besehen wollen, gekommen ist, begreifen: indem es alles Denkerische, soweit in einer Weltauffassung, die seit Hegel und Marx auf des Einzelwesens kennendes und bestimmendes Gewissen radikal verzichtet hatte, davon noch gesprochen werden konnte, einem allmählich dazu privilegiertem Klüngel überließ, der es aus Räuschen grotesker Eitelkeiten nach Laune zu Entschlüssen und in ein Leben schob, für das – und hier gipfelt Komik und Gemeinheit, er trotzdem volle Verantwortung seinen Puppen überließ, die mit den Versen nach seiner Pfeife tanzten:

Berlin ist schön, Berlin ist groß,
Nur in Berlin allein da ist der echte Rummel los!

Ja, Rummel war in Berlin vom Morgen bis spät in die Nacht los, nur daß das scharfe Ohr Mißtöne, klägliches Katzenjammern hörte. An sich hätte man sich denken können, die auf der Linie von Hegel zu Haeckel gewachsene radikale Unverantwortlichkeit des Menschen vor Naturnotwendigkeiten sei bei dem Berliner und seinem ursprünglich unbekümmerten und selbstbewußten Charakter in rechte Hände gekommen, er hätte, da er nichts mehr besorgen mußte, sich auf Grund der neuen Lehre wirklich grenzenloser Ausgelassenheit, jauchzender Lebenslust, etwa so prachtvoll und unvergleichlich hingegeben, wie ein einziger freier Deutscher, Nietzsche, es in diesem Augenblick zu fordern begann.

Es wäre denkbar gewesen, die in Deutschland am meisten verhätschelte Rasse der Berliner hätte sich solchen durch Philosophen rückversicherten Mut genommen, daß sie jenseits von Gut und Böse auf Grund großer Bankguthaben dionysische Laune, ein reines Lachen ausgetollt, ihre Landsleute, ganz Deutschland und schließlich abendländische Welt mit Lust angesteckt hätte.

Alle Umstände waren vollendet da. Nietzsche gab geistiges Geländer. Hier war in Europa ein verhältnismäßig frischer, von übertünchten Zwangsvorstellungen westlicherer Stämme, Schwaben und Alemannen, unberührter Volkskreis. Wenig Kultur war noch in Brandenburg gewesen, der Tiefstand märkischen Geisteslebens durch Jahrhunderte berühmt, und was die Sitten betraf – bis 1890 hatte man noch in Kneipen ungestört gerülpst. Niedersächsischer Adel, Französlinge und Juden schwammen zu sehr nur auf der Brühe, als daß ranziges Fett ihrer Ideologien den unvoreingenommenen Geschmack schon durchwalkt hätte. Jetzt hätten, konnte Volk im wechselnden Chaos seiner Lebensumstände sich nicht immer gleich selbst zu solcher Lustigkeit zurückfinden, freie Geister seiner eigenen Rasse auftreten und die täglichen fröhlich naiven Kommandos geben, jetzt kein Goethe und Schiller mit sentimentalem Pathos aber Lessing, der hundert Jahr vorher vergeblich in Berlin gewesen war, mit seiner unbestochen freien Meinung kommen und den Star der Blinden stechen müssen.

Stattdessen neigte nach Austoben erster Jugendtriebe des Reichs oberste Spitze, der Kaiser, als sein Selbstgefühl Kritik an ihm nicht vertrug, wieder mehr und mehr zum Ausgleich mit einer moralisierenden Überlieferung, deren glänzendsten Vertreterer er unschädlich gemacht hatte, und der darum keine Konkurrenz mehr für ihn war, und offiziöse und offizielle Welt ohne eigenes Urteil hing schnell die Fahne nach dem Wind. Unter äußerer Wahrung eines Pseudozeitgeists begann von dieser Sekte eine Reaktion, die den bis dahin einigermaßen kaltgestellten Preußengott, Herrn der Heerscharen, historische Kostüme und Perücken und das früher beliebte Gewitterblech höchster irdischer Gewalt mit wachsendem Erfolg wieder auftreten und donnern ließ.

Nachdem durch bloßes zeitliches Dasein jeder Proletarier eine Nummer geworden war, brauchte der König, standesgemäß zu leben, mehr und zog sich immer geschwollener und pompöser auf ein Gottesgnadentum zurück.

Andererseits entschied der Umstand, kein Lessing oder seinesgleichen nahm die fallengelassene und öffentlich ausgebotene Geistigkeit in Berlin auf und führte sie zum Gipfel eigener Kraft, sondern es gab im kritischen Augenblick, den wir um 1900 setzen, dort kein Hirn, das zu einer Diktatur reinen Zeitgeists, von der das Heil der Selbständigkeit und Freiheit dieser deutschen Epoche abhing, fähig war, vorhanden.

Aber es bemächtigten sich in diesem Augenblick, da geistige Entscheidung in Deutschland inmitten animierter, täglich ausverkaufter Warenmesse an einem Haar hing, Menschen dieser unvergleichlichen Macht, von denen im folgenden als der überhaupt wichtigsten Kategorie, die von da bis jetzt alles Geschehen in Deutschland auf allen Gebieten trieb und entschied, und die auch nach dem schmählichen Abtritt militärischer und politischer Führer im Herbst 1918 noch niemand genauer besah, deutliche Rede sein soll.

4

Kadavergehorsam, der alte Geist, der Berlin durch vier Jahrhunderte hohenzollerisch regiert hatte, war jedem Bewohner so in Fleisch und Blut gewachsen, daß er auf ihn in Büchern und Zeitungen hatte verzichten können; von Kriegen und neuen Weltanschauungen an bis zu einer Feuersbrunst und einem Mord aus Eifersucht war alles stets so gut brandenburgisch alleweg auf Kommando vor sich gegangen, daß man, es gedruckt noch einmal vorgesetzt zu bekommen, nicht nötig hatte.

Die Spenersche und Vossische Zeitung hatten auswärtige Ereignisse erst ein paar Tage, nachdem sie überall im Land bekannt geworden waren, den Berlinern gebracht, weil eines Vorfalls in Köln Übersetzung ins Preußische unter Mitwirkung einer strengen Zensur Zeit brauchte.

Damals hatte der Berliner schnelle Berichterstattung nicht gebraucht, da mit der Behörden Hilfe doch alles in der Welt zu gutem Ende kam, und eine barbarische Aufsicht dafür sorgte, daß keine besondere Darstellung Zweifel an des Regierungssystems Vollkommenheit aufkommen ließ.

Was an Fronde in der Spargnapanischen, Jostyschen und Stehelyschen Konditorei in des neunzehnten Jahrhunderts erster Hälfte vorsichtig getrotzt und schließlich zum Revolutiönchen von 1848 geführt hatte, war vor Waffenerfolgen der sechziger Jahre und vor den Heldentaten von 1870/71 ehrfürchtig verstummt, und erst das für den unmündigen vierten Stand erwachende soziale Gewissen, das für eine zu anderer Arbeit unfähige Schicht gutes Geschäft werden sollte, führte über Berlin eine Druckflut herauf, in der wir heute bis über die Ohren ersoffen sind.

Es beweist die Überzeugungstreue, mit der jedermann an Naturnotwendigkeit aller Vorgänge glaubte, daß die Regierenden sogar des intellektuellen Betriebs Handhabung, von dem man nichts als Erläuterung eben dieser Naturphänomene erwartete, nicht nur jedem Beliebigen überließ, sondern ihn im großen und ganzen auch nicht beaufsichtigte.

Nachdem Junker und Industrielle sich in des Lands Verwaltung und Ausschlachtung eines natürlichen Reichtums geteilt hatten, glaubten sie offenbar, es gäbe daneben nichts, dessen Besitz der Mühe lohne und das irgendetwas einbringe.

Die zugewanderte Intelligenz aber, die sich des Druckwesens bemächtigte, begriff sofort, um unbehelligt schalten und walten zu dürfen, müsse man die Machthaber herrschen und mächtig verdienen lassen und etwaigen mitmenschlichen Protest für den vierten Stand gemäßigt evolutionistisch und keinesfalls revolutionär vorbringen, worin man nur wieder Natur folge, die auch nicht jäh doch peu à peu entwickle.

Ein Juste milieu sei der Standpunkt, von dem aus man sowohl die Besitzenden von Zeit zu Zeit so weit erschrecken, daß man selbst kleinen Machtkitzel spüre, als auch den Arbeiter mit fortschrittlichen Gesten gängeln könne, ihm nicht verdächtig zu werden. Da man auch auf dieser Seite gewiß war, Elementares hinge von keinem Buch oder Zeitungsartikel ab, wollte man auf mittlerer Linie, dem goldenen Mittelweg, wenigstens dabei sein und, konnte man Reichtum nicht, kaum seinen Unterhalt erwerben, doch eine gewisse Geltung vor sich und anderen gewinnen.

Bevor das Juste milieu seine Dichter verkündete, hatte es in Berlin schon einen Künstler akklamiert und ihm seine Opernhäuser und Konzertsäle zur Verfügung gestellt, der letzten Argwohn Besonnener vor dem neuen Glanz und Gewissensreste mit einem Fortissimo von Pauken und Trompeten erschlug. Der Sachse Richard Wagner, von höheren Fügungen in seiner Weltanschauung überhaupt absehend, brachte anstatt des christlichen Himmels das alte Walhall mit seinen Bewohnern dem Publikum wieder nah, nach ihrer Kleidung und sonstigen Ansprüchen ungezwungene Wesen, in deren Götterhall es aber derart skandalös und spießbürgerlich herging, daß der gewöhnliche Sterbliche sich vollends überzeugte, wo Leben der Himmlischen so erbärmlich beschränkt und abhängig sei, könne er wirklich mit seiner Preußisch-Berliner Freiheit zufrieden sein und mit vollem Recht von einem Fortschritt durch Jahrhunderte trotzalledem sprechen.

Es war danach auf der Basis dieser Zufriedenheit mit vorhandenen Zuständen aller kommenden „Dichtkunst“ von Sudermann bis Unruh Voraussetzung, um in Berlin gelobt und anerkannt zu werden, durfte sie keine stürmischen höheren Ehrgeize, Änderung oder schroffe Erweiterung staatsbürgerlichen oder gar menschlichen Horizonts erwecken, sondern schwärmend in den vorhandenen Wassern plätschern.

Da aber ein Anstoß aus irgendwelcher treibenden Kraft in der Dichtkunst gewonnen werden mußte, ein außerordentliches Ziel nicht gezeigt werden durfte, wickelte man den bürgerlich seelischen Mechanismus eben dieses Juste milieu auseinander und zeigte bewundernden Zuschauern gerade so wie dem über der Lupe staunenden Schüler, dieser Organismus lasse nicht mit sich spaßen, und was alles aus diesem Mikrokosmus sich mit Dichters genialer Hilfe doch ereignen könne. Das nannte man Psychologie, Entwicklung (von hintenher, für die der Student die Bezeichnung „Nachtusch“ hat).

Damit, daß die in dieser Atmosphäre Lebenden gesamtes deutsches Schrifttum verwalteten, war dem Juste milieu neben den eigentlichen Herren nicht nur große Exekutive gegeben, sondern weil jeder Schreibende vor allem Seelenregungen ihm nahestehender Kreise in seinen Dichtungen spiegelte, war in der Literatur des Juste milieu Psychologie bald alleinherrschend und schien die Deutschlands an sich, indem Publikum des In- und Auslands aus der Szene und im Roman nicht mehr Entschlüsse und Schicksale auf hervorragenden Plätzen stehender außergewöhnlicher Menschen, sondern was in durchschnittlichen Bürger- und fälschlich ihnen gleichgesetzten Proletarierseelen sich abspielte, ohne Abwechslung zu lesen und dargestellt bekam.

Der Hartleben, Dehmel, Hauptmann und Sudermann Werke waren gerade darum interessant, weil in ihnen der Bürger des Juste milieu nicht wie im Leben Personen übergeordneter Stände vor erhabenen Klischees von vornherein starrstand, sondern all seine Extravaganzen austobte, erst noch beträchtliche dynamische Zuckungen hatte, ehe er unter dem Jubel des Publikums vorschriftsmäßig in Scharniere höherer Notwendigkeiten kurz vor dem fünften Aktschluß verreckte.

Naturalistisch wurde im Kunstwerk nachgeahmt, was sich im Leben des Juste milieu zutrug: nämlich wie der einigermaßen unvoreingenommen Geborene unter Widerständen dennoch in den Glanz Hegelscher, Haeckelscher und, was das gleiche ist, Scharnhorstscher Gewißheiten hinaufrückt; brauchbarer, ja strammer Mitbürger vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts wird.

Johannes Vockerath denkt nicht daran, die kranke Braut zu heiraten, weil – Liebe hin, Leidenschaft her – eine Sache faul steht, ist Natur nicht in Ordnung.

Was neben diesem Klischee während vierzig Jahren sich in Deutschland menschlich auswirkte, geschah, weil nicht gesellschafts- und literaturfähig, privat, und von 1871 über 1900 hinaus gab es in deutschen Büchern keine Ekstasen persönlicher Frömmigkeit oder politischer Besessenheit, aber Mechanik der Seele in allen Preislagen zu sehen.

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Für den Juden war diese mechanisierte Geistigkeit und ihre Verkündung darum Trumpf, well er von jeher ohne Verständnis für Einsam-Außerordentliches, auch als es jüdisch in Christi Gestalt auftrat, Verkünder mittlerer intellektueller Aufgeklärtheit und all dessen, was dialektischen und sonst Kurs hat, gewesen ist.

In einer Welt, in der auch das Höchste und seine verschiedene Schätzung abgelesen oder ausgerechnet werden kann, gewann er unbeschreibliche Geltung; und hätte er sich nicht selbst zur Verherrlichung solchen Zeitgeists gedrängt, hätte man ihn als seinen geborenen Propheten herbeiwünschen müssen.

Nicht daß er vor aller Welt die Repräsentanz übernahm. Der Jude trägt, wie der Papst, keine öffentliche Verantwortung. Die überließ er Strohmännern, begabt und eitel genug, unter diese Hegelisch-Marxischen Wechsel ihre Unterschrift zu setzen. Aber an allen Kassen seiner kapitalkräftigen Anstalten und Filialen löste er sie ein und filterte sie in breitesten Verkehr.

Alle Druckschriften von 1870 bis zum Weltkrieg, ihren unaufhaltsamen Katarakt sehe man sich an, und es erhellt aus ihrer Verfasser Geist sofort auch der ihrer anonymen Auftraggeber und Mäzene.

Zeittendenzen und eine sie scharf markierende Literatur gewinnen aber ohne eine sie lobpreisende Kritik keinen überragenden Einfluß. Darum sehen wir neben Kunst und Wissenschaft des Juste milieu eine sie anbetende, posaunende Presse treten.

In ihr erst herrschte der jüdische Berliner, und was als Molluske in seinem Schlepptau ging, allmächtig. In ihr konnte er anonym sein Ressentiment gegen alles Heilige und Höchstpersönliche austoben. Für protestantische Ideologie, die über Marx' Wirkung hinaus große Teile der Berliner Bevölkerung noch lose verbunden hatte, bestimmten jetzt jüdische Häuptlinge Berlins und der Nation höchste Ideen, die darin bestanden, daß der Weizen überall gleich riecht und schmeckt und hier und dort nur im Preis differiert.

Auf dem Boden solcher Binsenweisheiten, die immer stimmten, ging das Leben in Berlin natürlich famos, und seine Ausleger gewannen den Schein höchster Weisheit, weil alles eintraf, was sie ausrechneten; das Erstaunen eines unerhört blödsinnigen gebildeten Pöbels darüber, daß wie pünktliche Natur auch der Zeiger banaler Ereignisse richtig ging, war bodenlos. Ereignis hieß alles: daß eine Mutter Drillinge warf, ein Wahnsinniger tobte, ein Kassier unterschlug und ein Kanzlist nach vierzig Dienstjahren dekoriert wurde. Das Wesentliche blieb die literarische Beleuchtung der Belanglosigkeit, Brillanten des Schmocks dazu. Sagte der Reporter voraus, England werde, baue Deutschland stürmisch Kriegsschiffe, nicht zögern, ihm zu folgen, empfahl er sich damit als Fachmann für Marineangelegenheiten. Nichts war so selbstverständlich vorauszusehen, daß seine Verkündung nicht Zeichen unwahrscheinlichen Scharfsinns war.

Passierte trotz Hegel und seiner „Belauschung des Objekts in seiner vernünftigen Entwicklung“ doch einmal das ganz Unwahrscheinliche, Unvernünftige, blieb es in Zeitungen unerwähnt und existierte also nicht. Längst hatte der Journalist erkannt, daß das, wovon er nicht sprach, in Hirnen der Berliner auch nicht vorhanden war. Jibt's ja jarnich!

Schwer zu entscheiden ist es, wieviel böser Wille und wieviel Dummheit, Besonderes zu sehen, in solcher Berichterstattung des Zeitalters war. Haarscharf wurde alle Situation zerlegt, der Welt aber verwehrt, sich gegen das vergewaltigende Klischee in ihr zu sperren und Person zu behaupten. Die Aufzucht zum Herdenvolk unter der täuschenden Etikette: Erziehung zum Sozialismus und mit dem Refrain „es soll am deutschen Wesen die ganze Welt genesen“ geschah zur Gleichheit ohne Freiheit.

Verhängnisvollster Irrtum aller Kritik am Juden war es seit langem, daß man ihm Beherrschung der Welt durch von ihm aufgehäuftes Kapital vorwarf. Das war für ihn vielmehr nur so lange ein Mittel, als er es, sich gegen seine arischen Unterdrücker auf Grund ihrer Käuflichkeit zu behaupten, brauchte. In Epochen, die seiner starren jüdischen Idee chaotische Großartigkeiten entgegensetzen konnten, war er mit all seinen Reichtümern der einflußlose Unterdrückte geblieben. Erst als preußische Philosophen in Berlin eine Weltanschauung erfanden, die jüdischer Orthodoxie auf ein Haar glich, war zwischen dem unbeirrbaren, in jeder Regung aus dem Verstand der Menschen festgelegten Jehovah und einem doktrinären Absolutismus einer vernünftigen Staatsreligion kein Unterschied mehr. Da mußten ohne ihre Schuld seine ältesten und überzeugtesten Verkünder nicht durch Goldes Macht, aber einfach durch ihre dem allgemein gewollten Weltgeist am meisten entsprechende Mentalität allmächtig werden.

Zum erstenmal in neuerer Zeit stand der Jude nicht im Gegensatz zum Leben des Volks, bei dem er wohnte, sondern Berlins große, gewaltige Mitte, sein Juste milieu, das jeden Tag an Umfang zunahm, deckte sich in seiner Auffassung des Kleinsten und Größten unbedingt so mit der seiner jüdischen Mitbürger, daß es in ihnen seine fähigsten Vorkämpfer erkannte und sie ruhigen Gewissens walten ließ.

Das Problem des Kapitals ist von Marx, der der jüdischen und neuen preußischen Idee Korrespondenz gewiß erkannt hatte, unwillkürlich und instinktiv falsch in aller öffentlichen Diskussionen Mitte wohl darum gerückt worden, um die öffentliche Aufmerksamkeit von der verblüffenden Hauptsache der Übereinstimmung preußischer und jüdischer Ideale auf die Erscheinung abzulenken, die er als nicht mehr typisch jüdisch, sondern für alle heutige Menschheit gültig bewiesen hatte, und die darum auch Antisemiten erträglich war.

Alle schreibende Gegnerschaft der Juden hat nach diesem Schachzug Marx' nie mehr das Jüdische an sich in den neuen deutschen Weltanschauungen, das sie ja selbst vertrat, sondern ein schon wesentlich allgemein, also unjüdisch Gewordenes, die Jagd nach dem Mammon, sich nicht selbst wehzutun, angegriffen, und der Jude, vor höherem Gewissen dadurch unbescholten, konnte so das wirklich zeitgemäß Jüdische aus dem Geist der Deutschen mit seinen hauptsächlichen Kampfmitteln, der Zeitung und der Druckpresse, durchsetzen.

Blieb über Feiertage, Streiks oder andere Ereignisse Berlin einige Tage ohne Zeitungen, eine Einkehr, Nachdenken hatte im Publikum inzwischen stattgefunden, las man bei Wiedererscheinen unbedingt folgende Worte:

„Von Tausenden wurde das Fehlen der Zeitungen in den letzten Tagen schmerzlich empfunden. Es war ja nicht nur das Ausbleiben der gewohnten geistigen Kost, es war das Gefühl des Abgeschnittenseins von den Ereignissen der Umwelt, das beunruhigend und auch verstimmend wirkte. Die dürftigen Nachrichten, die verbreitet wurden, genügten dem begreiflichen Bedürfnis nach Aufklärung nicht und begegneten, da allerlei tendenziöse Nachrichten durch die Luft schwirrten, nicht dem vollen Vertrauen der Leser.“

Während es hätte heißen müssen:

„Von Hunderttausenden wurde das Fehlen der Zeitungen in den letzten Tagen als Erlösung empfunden. Es war ja nicht nur das Ausbleiben des gewohnten sinnlosen Schleims, es war das Gefühl ungestörten Alleinseins mit den Ereignissen der eigenen Innenwelt, das beruhigend und reinigend wirkte. Die dürftigen Nachrichten, die durch Extrablätter verbreitet wurden, konnten das begreifliche Bedürfnis nach Sammlung nicht zerstören, und begegneten, da man sie als tendenziöse Nachrichten, die durch die Luft schwirrten, unschwer erkannte, keinem Vertrauen der Leser.“

Als richtunggebende Gewalt führte also das Juste milieu unter jüdischer Führung in Berlin den Eroberungsdrang regierender und den Profitdrang repräsentierender Schichten zu lauter hochziffrigen und kolossalen Tatsachen. Eine G.m.b.H. waltete als Vorsehung mit einer Generalversammlung, die Reichstag hieß.

Da der Mann auch weiterhin ausblieb, der die Massen nicht zum lockenden Bild des genießenden Bourgeois aus dem Juste milieu verführte, sondern die neue Arbeiterreligion ohne Rücksicht auf bürgerliche Ideale schuf, dem Arbeiter aus seinem Aufschwung keine eigenen Ziele erwuchsen, aber aller Sozialismus ein Negatives, Ressentiment gegen die die bürgerliche Behaglichkeit Besitzenden zu bleiben drohte, versuchten umgekehrt des Juste milieu Lenker den Arbeiter, ihn kirr zu machen, der Segnungen bequemen Wohlstands teilhaftig werden zu lassen.

Des Lebens Hebel wurde so gestellt, daß der Proletarier, der sich in Probleme eines radikal neuen Seins nicht versenkte, zusah, wieviel er vom Geist des Juste milieu, der ja Sinn ökonomischer Vorsehung an sich war, für sich erraffen konnte.

Eifrig bahnte man ihm zu allen Genüssen Weg. Immer selbstverständlicher durfte er am öffentlichen Gebaren teilnehmen, und eine marxistische Opposition wurde sogar von obenher gehätschelt. Parlamente, hohe Schulen, Museen und Theater öffnete man nicht nur dem Volk, sondern ähnelte sie seinem Begreifen an, erweiterte Kauf-, Wein- und Kaffeehäuser, in denen man ihm Opern- und Operettenarien vorspielte, ihn aus deren Texten nach raffinierten Bourgeoisherrlichkeiten begehrlich machte. Mächtig chloroformierte man ihn mit billigem Luxus.

Nirgends erschien demgegenüber die weibliche oder männliche proletarische Offenbarung, platzte die für bessere Nasen mit üblen Gerüchen gefüllte Bombe. Aber Volk gewöhnte sich an ölige Patschulidämpfe bürgerlicher Parfüms.

In Sudermanns Werken war zuerst die sensationelle Mischung von Vorder- und Hinterhaus und ihre schließlich» Versöhnung in dem damals gut geleiteten Berliner Lessingtheater (welche Ironie!) erschienen. Aus der Armut als moralische Siegerin so hervorging, daß sie als herausgepaukt des Ausstiegs in höhere Regionen würdig erhellte. Quod erat demonstrandum. In allen Bühnenstücken und Prosawerken wurde durch Beispiele seiner verhältnismäßigen Tüchtigkeit der Proletarier angefeuert, die Leiter der einzig möglichen, materiellen Entwicklung zum Scheckbuch guten Muts heranzusteigen, was ihm mächtig die Brust schwellte. Journalisten in feurigen Aufsätzen ermunterten ihn freundschaftlich und ausdrücklich.

Begreiflich ist, eine kleine Schar Schreibender, denen die steigende Anbetung der misera plebs à tout prix Übelkeit verursachte, verharrte in schmollender Würde, und Stefan George, Rilke und Hofmannsthal sprachen in einer Neuromantik erst recht so, als gäbe es kein Berlin und keine im Endspurt erbittert miteinander ringenden Klassen, sondern wie zu Olims Zeit sei prangender Garten mit Äolsharfen, Moosteppichen, buntem Blätterfallen und auf Anhöhen herrschenden Aussichtstempeln Welt, von denen eine distinguierte Gesellschaft feierlich und pathetisch zu erlesenen Panoramen hinabsah.

In Kinos auf der Leinwand gar erzog das dezent dekolletierte Mädchen aus dem Volk den Lebemann mit der strotzenden Banknotentasche nicht etwa zu unnötiger Verteidigung seiner Schätze, sondern zur neuen, alle erfüllenden Moral, die den saftigen Lebensgenuß, wie er einmal war, teilen hieß.

Derartiges muß ich erkannt haben, als ich zur zweiten Auflage meines Lustspiels „Die Hose“ solche Vorrede schrieb:

„Als ich neunzehnhundertundacht ein bürgerliches Lustspiel veröffentlichte, das Berlin in den Kammerspielen sah, kannte nach Gerhart Hauptmanns Naturalismus die deutsche Bühne nur die Maskerade vom alten Fabelkönig, der jungen Königin und dem famosen Pagen, die unter mannigfalten Verkleidungen neuromantisch auftraten, reich kostümiert von Wirklichkeit fort Glanz sprachen, Erhabenheit handelten.

In meinem Stück verlor ein Bürgerweib die Hose, und von nichts als der banalen Tatsache sprach in kahlem Deutsch man auf der Szene.

Ob solcher Einfalt fällte Welt das Urteil: wie war das Dichtung? Eine bürgerliche Hose und fünf Spießer, die von ihr räsonierten? Wo blieb gewohnter Glanz(ersatz), wo auch nur (Pseudo-)Naturalismus? In einer Sprache redeten dazu von der Albernheit die Leute, die in keinem Buch, keiner Zeitung stand, und die kein besserer Bekannter sprach.

Der Autor, offenbarer Absicht, ließ der Komödie eine Anzahl anderer folgen, die wesentlich Neues der ersten nicht hinzufügten. Von durchschnittlichen Dingen sprach man weiter, handelte Beiläufiges mit Emsigkeit und einem Nachdruck ab, die an solche Welt noch nicht gewandt war.

Doch diese Welt (des Juste milieu), die in der Öffentlichkeit keine Rolle spielen mochte und anderen der Verantwortung Ehre und Bürde überließ, blieb, als sie eines neugierigen Auges Scheinwerfer plötzlich auf sich gerichtet sah, verwirrt und in den Strahlen wie ertappt; schrie aus vollem Hals den Friedensstörer an, und die ergebene Presse zog blank.

Man las in allen Feuilletons: derartige Herzlosigkeiten verbitte man sich. Erlaubt sei von zurückgebliebenen Edelleuten und Proletariern (als noch nicht zur „Welt“ gehörig) die kritische Darstellung. Der Bürger aber – da war hinter einem Wall verabredeter Ideologien, Gaswolken von Apotheosen, Schützengräben von Metaphern, des Geschäfts, der Tratten und des Verrechnungsschecks garantierte Wirklichkeit.

Sieben Komödien schrieb ich von 1908–1913. Die letzte, die des Vorkriegsjahres Namen trägt, zeigte, wohin in aller Einfalt womöglich des Bürgers Handel gediehen war. Vom Dichter gab es nichts, nur noch von Wirklichkeit hinzuzusetzen. Trotz vielfacher öffentlicher Darstellung und Verbreitung durch Druck hatte niemand gemerkt, wohin mit meinem Werk mein Wille ging. Der einzige Franz Blei drohte durch unbeherrschtes Entzücken von Zeit zu Zeit größere Aufmerksamkeit gegen mich zu entfesseln, ehe die Zeit gleiche wirkliche Leistung vom Bürger wollte, die ich ihn literarisch ab neunzehnhundertacht in seinen stärksten Repräsentanten vollbringen ließ.

In des „bürgerlichen Heldenlebens“ sämtlichen Komödien ist wie in all meinen Erzählungen, die ihm folgten, mit des Helden Einschluß zwar alles Bürgertum der eigenen gehätschelten Ideologie inkommensurabel, vor der Vielzuvielen Hintergrund des jeweiligen Werkes Hauptfigur aber ein zu sich und ihm ursprünglichen Kräften gegen gesellschaftlichen Widerstand leidenschaftlich und heldisch Gewillter.

Also nicht Ironie und Satire, die als meine Absicht der tüchtige Reporter festgestellt hatte und Menge nachschwatze, sondern vor allgemeiner Tat aus meinen Schriften schon die Lehre: daß Kraft sich nicht verliert, muß auf keinen überkommenen Rundgesang, doch auf seinen frischen Einzelton der Mensch nur hören, unbesorgt darum, wie Bürgersinn seine manchmal brutale Nuance nennt.

Einmaliger, unvergleichlicher Natur riet ich jedem Lebendigen zu leben, damit keine Zahl, sondern Schwung zu ihrer Unabhängigkeit entschlossener Individuen Gemeinschaft bedeutet, mit dem aus Nation und Menschheit ein Ziel allein erreichbar ist.“

Da ich auch weiterhin aus dem Proletarier die eigene leidenschaftliche Regung vermißte, ihn sich im Gegenteil hastiger aller Bürgerlichkeit anschmiegen sah, meinte ich, man müsse erst dem Juste milieu selbst, indem man seinem literarischen Gleichnis Schminke und Larve abriß, Mut zu seiner menschlichen Ursprünglichkeit wecken, es statt zu verlogenen Kompromissen auch mit dem Proletarier endlich einmal zu heldenhafter Ausstellung seiner Tugenden und Laster zwingen, um den ersten reinen Atem in eine von Berlin aus über das ganze Land verpestete Atmosphäre zu führen.

Ich entfachte zu keiner Erziehung; im Gegenteil warnte ich vor Kritik göttlicher Welt durch den Bürger und machte ihm Mut zu seinen sogenannten Lastern, mit denen er Erfolge errang und riet ihm, meiner Verantwortung bewußt, Begriffe, die einseitig nach sittlichem Verdienst messen, als unerheblich und lebensschwächend endlich aus seiner Terminologie zu entfernen. Auch müsse er fürchten, es käme ihm sonst noch der Proletarier zuvor, der mit Metaphysik und allem Eidos schon kräftig tabula rasa zu machen sich anschicke, nachdem der Adel schon seit Menschenaltern vernünftig und politisch lebe.

Im Grund aber hoffte ich, der Arbeiter sähe statt des ihm frisiert hingesetzten Manns des Juste milieu daraus endlich den wahren und echten Jakob ein; hinter dessen literarischem Entgegenkommen und geschminkten Mätzchen seine wirkliche, noch allmächtig lebendige, brutale Lebensfrische und messe an ihr als an formidabler Wirklichkeit statt an verblasenen Theorien Wucht bevorstehender Entscheidung, der ich mit dem einzigen Verlangen gegenüberstand, es möchte sich aus ihr, gleichviel auf welcher Seite, der Zeit Wahrhaftigkeit endlich offenbaren.

Berlins Äußeres folgte genau diesen inneren Ereignissen. Durch vierzig Jahre erstand im ganzen Stadtbild kein Denkmal dieses Zeitalters angeblicher Befreiung der arbeitenden Klasse, sondern Berlin erhielt zu Monumenten bürgerlicher Größe, Banken, Hotelpalästen, Verwaltungsgebäuden und Instituten für bürgerliche Wissenschaften nur noch Mengen mit dem Kaiseradler gekrönter Kommandanturen und Reihen marmorner Statuen verstorbener Hohenzollernvögte samt ihren Kreaturen, deren künstlerische Impotenz geschultem Auge Brechreiz vermittelte.

Sonntags zog der Proletarier mit platonisch flammender Kravatte an diesem für ihn erstellten Rummel vorbei durch die Siegesallee, und die innere Stadt, und eine vielleicht auf den Spaziergang mitgebrachte sanfte Empörung ersoff, vor soviel Pracht kurzatmig geworden, im nächsten Ausschank bei Isoldes Liebestod, Armeemärschen und Patzenhofer.

Als dritte Etappe auf dem Weg zum Verständnis der Entwicklung Berlins merken wir also, daß, als die bis dahin führenden Schichten, um besser verdienen zu können, die geistige Leitung des Betriebs einem Juste milieu überließen, das ihn durch ursprünglich Ortsfremde, hauptsächlich von Osten her Zugewanderte ausübte, seitens der eingeborenen, arbeitenden Massen nicht nur kein Versuch gemacht wurde, diesem Geist gegenüber anders original zu manifestieren, sondern daß Volk von Berlin keinen Sinn des Sozialismus kannte, als zu materiellen Sicherheiten sich in eben dieses Juste milieu „hinaufzuentwickeln“ und neben diesem immerhin Afterideen produzierenden Stand vollkommen unproduktiv blieb.

Wirklich gab es in der Hauptstadt des Deutschen Reichs nur eine gültige Berliner Art, die sich als angestaunter Gipfel die Provinzen ohne Widerstand eroberte und die, assoziiert mit dem für das Gedeihen deutscher Wirtschaft angeblich leidenschaftlich interessierten naturwissenschaftlichen Gott und unter Wilhelms II. schneidiger Prokura immer selbstbewußter auftrumpfend, fabelhafte Dividenden zog, an denen bis zum kleinsten Mann hinunter alle Welt beteiligt war.

Jede Behauptung, vor neunzehnhundertvierzehn habe in Berlin der Arbeiter oder einer seiner Führer eine Geste bis zum Thron und höher hinaufgewinkt, die ihn als mit dieser Weltanschauung nicht solidarisch gezeigt hätte, ist falsch und trübt die unbestochene historische Erkenntnis.

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Im Gegenteil wurde von eigenen Lehrern und Führern am meisten der Arbeiter zur Vergottung des Kolossalen gedrängt, weil aus diesem Begriff Beziehung zu dem einzigen Wert, der ihn selbst gesellschaftlich beglaubigt hatte, dem Massenhaften, zahlenmäßig Gewaltigen sichtbar war. Ein halbes Jahrhundert ließ er verstreichen, ohne seine mitmenschliche Würde anders als durch hohe Ziffer lebender Proletarier ausgedrückt wissen zu wollen.

Die aus zeitlicher Weltauffassung für ihn günstige Konstellation genügte ihm, und das war der wenigen bis zum Grund der Verhältnisse Sehenden Verzweiflung, daß diese klaffende Lakune dauernd durch kein mächtiges Gesicht oder riesige proletarische Tat ausgefüllt wurde, ja, daß die an der Bewegung zunächst Beteiligten sie gar nicht zu bemerken schienen.

Gerade von unten herauf stellte sich Berlin auf das einzige Prinzip der hohen Nummer ein, und allmählich verwischte sich, stand eine Zahl auf dem Spiel, neben ihrer absoluten Größe ganz der Begriff von Beziehung und richtendem Maß.

Zahl an sich, ihr Rundes, Geformeltes, das er erst nur an gegebener Schöpfung bewundert hatte, nahm nach dem Beispiel des Juste milieu auch der Proletarier als einziges Entscheidendes in sein Tun, all seine Funktionen mit und forderte aus des Nächsten Wirksamkeit nur hochpotenzierte Dynamik. Nicht Wille zur Macht schlechthin, wie Nietzsche gemeint hatte, aber Wille zur Wucht der in allem Geschehen verkörperten absoluten Ziffer wurde sozialistischen Zeitalters Fundament.

Niemand ging die erstmals zu schauende Strecke Wegs „so für sich hin“, die ihm aus Himmel und Landschaft Überraschungen und Schicksal bringen konnte, aber möglichst viele Kilometer schritt, kurbelte, raste er ab, die er vorher bestimmt hatte, und die im Marsch nur kontrolliert wurden. Kein Erlebnis, nur ein Zähler wuchs mit Tritt und Schritt, und war man zu zweit und zu vielen, gab es erst recht kein Verweilen, sondern Start, Lauf und Finish. Feste Müller!

Von der sich entwickelnden Heldin meines Romans „Europa“ heißt es:

„Für sie wurde alles Geschehens zu merkender Sinn, der früher in Ursachen und Zwecken bestimmt gewesen war, das in ihm erreichte Tempo. Alle Empfindung spannte sie für dessen beste Innewerdung und bekam für jedes Zeitmaß reizbarstes Membran. Nur das entzückte sie überall. Das traf sie aus Gemälden, Musik und Dramen, doch auch aus Kavallerieattacken und der Feuerwehr Auffahrt. Jedesmal in einem Schubertschen presto schrie sie bei Synkopen vor Wollust auf, doch auch, sprach das entscheidende Wort der Schauspieler so in ein Lautloch hinein, daß aus Takten Knall zustande kam.

Nur daß, nicht von wem speziell wozu, daß heftig und wie Blitz gelebt wurde, Schornsteine rauchten, Buchflut wuchs, Massen wurden, Gehirne dampften, Meere, Lüfte pfeilschnell durchflogen wurden, war wichtig. Sie peitschte der anderen Marsch und den eigenen und war Hand am Hebel immer bereit, letzte Übersetzung einzustellen. War überzeugt, alles andere als Menge der in der Arbeit gezeigten Energie war belanglos. Der Deutschen formidabel Motorisches sah sie ein.“

Kurz – wie deutscher Champagner brauste Berlin, und war keine Einzelbedeutung, kein Einzelschicksal zu sehen, gab es um so stärkeren Gesamtübermut und Kollektivschneidigkeit. Man ging aufs Ganze in dem Sinn, daß das Ganzes die Million oder als Traum die Milliarde war.

Prostitution sogar war eine Sache. Gab es doch siebenzigtausend eingeschriebene Mädchen in Berlin, die auf der Friedrich-, Leipziger und Potsdamer Straße oder zu billigeren Preisen in der Linienstraße strichen, ganz abgesehen von denen, die sich bis in höchste Kreise heimlich dem Beruf Hingaben und womöglich in die Hunderttausende gingen.

Gab es doch eine Brigade Arzte, Quacksalber, Hebammen, die sich mit Folgen dieser Angelegenheit befaßten und Familien damit ernährten. Waren es doch abermillionen Mark, die aus solchem Handel verdient wurden.

Aus allem ließ sich eben etwas machen, multiplizierte man es bedeutend genug, und schon die Kinder auf Berliner Höfen zählten ab: dreimal drei ist neune, du weißt ja, wie ich's meine.

Wie aber zur Herstellung des durch Multiplikation in allen Betrieben Produzierten Mut gehörte, so viel größerer zu seinem Verbrauch. Der alte Berliner war kein Geizhals, aber auch kein Verschwender gewesen. Immer hatte er für sein Geld etwas haben wollen und unter dem Etwas Qualität verstanden.

Nachdem aber Berlin Nord und Ost Deutschlands größtes Industriezentrum geworden war, und man bei Tietz und Wertheim mit solcher Fülle täglich neufabrizierter unnötiger aber entzückender Wunder, die fast nichts kosteten, überrascht wurde, vergaß man über das, was man massenhaft aus Begeisterung kaufte, ganz das wenige Nötige, das man ursprünglich hatte kaufen wollen. Es fluschte nur so, wie der Berliner sagte, und hatte keinen Zweck zu knausern, konnte man durch spottbilligen Einkauf sich einen Machtrausch, betörendes Bewußtsein, Konsument zu sein, verschaffen.

Anfangs lag freilich des Berliners massenhaften Einkäufen noch eine gewisse Reserve in dem Wort zu Grund: wer kauft bei Tietz, bringt nichts von Wert-Heim.

Die schwand immer mehr, als man sah, von oben herab wurde im Staatshaushalt unbedenklicher gekauft und irgendwohin massenhaft aufgestapelt.

Nachdem nämlich erst einmal den Massen Ansprüche beigebracht waren, hatten sie von sich aus Tag für Tag größere, und immer noch ermunterte die Presse sie darin, indem sie von des Deutschen Auserwähltheit und des Berliners voran nicht genug Worte machen, in illustrierten Zeitungen die platteste Albernheit, den stumpfsinnigsten Untertan nicht oft genug photographieren konnte. Alles, was in Berlin geschah, war ohne Vergleich.

Fortgesetzt riß man erst Hingebautes ab, baute gewaltiger neu, baute in Erde und Luft. Errichtete Denkmäler reihen- und gruppenweise, demolierte, um größere Apotheosen hinzusetzen, verbrauchte atemlos, um mit gesteigerter Produktion nicht nur schnelleres Verbrauchen zu veranlassen, sondern, weil das hysterisch geschraubte Hervorbringen auch einziges Mittel wurde, die bei solchem Gedeihen lustig emporwuchernden Massen zu beschäftigen.

Denn auch im Hinblick auf menschliche Zeugung gab es kein Maß mehr, und die wie alles andere ziffernwütige Gesetzgebung fachte mit Gesetzen zugunsten des unehelichen Kinds die allgemeine Unbedenklichkeit zu geschlechtlichen Orkanen und ihren Folgen an.

Nachdem von sieben bis zehn Uhr abends des Publikums Sinnlichkeit in Theatern und Singspielhallen durch dargestellte Verführungen und Ehebrüche erregt war, wurde Berlin nach elf Uhr mit Tanzböden, Bars, Kabaretts, Chambres separées, mit dunklen Alleen und Nischen des Tiergartens, der Jungfern- und Hasenheide, mit zwischen Stätten der Lust hin und her schaukelnden Droschken und Automobilen ein einziges saftiges Beilager, aus dem neue Verbraucher für ins Beispiellose produzierte Materie geliefert wurden, und auf dem auch der in Kneipen mit roten Laternen verführte Gymnasiast schon eifrig mitarbeitete. Ein Gang durch das nächtliche Lichtmeer der glänzenden Hauptstadt des Deutschen Reichs mußte den nüchternsten Provinzialen überzeugen, in Berlin sei das Geschäft richtig.

Aber es war schon nicht mehr richtig. Denn trotzdem aller Welt vor fieberhaftem Verdienen und Verbrauchen Schaum am Maul stand, man, eine Zigarette anzuzünden, eine volle Schachtel Streichhölzer fortwarf, wurde doch nicht so viel verschwendet, wie, immer nachgeborene Mengen anspruchsvoller Arbeiter lohnend zu beschäftigen, nötig war.

Man begann daher schon um die Jahrhundertwende, auf Lager zu arbeiten, indem man gleichzeitig zwar noch durch lockendere Inserate und Erfindung radikalerer Mittel zu schneller Abnutzung den Umsatz zu heben suchte, in den erleuchtetsten Köpfen aber einsah, ein Höhepunkt sei überschritten.

Dann, als diese Gewißheit in der Oberschicht und im Juste milieu feststand, sich allgemein anschickte, auf einen Zustand hinzuarbeiten, der die Destruktion der überfüllten Lager an sich im großen und auf einmal zum Zweck hatte.

Das ist der historische Augenblick, in dem auf hohes Kommando das Juste milieu sein literarisches Interesse von himmlischen wirtschaftlichen Innenzuständen des Reichs auf mangelhafte politische Außenzustände umstellte. Es war der alte, immer wirksame Trick der Weltgeschichte, daß, wo es im Wirtschaftlichen zu hapern beginnt, man zur Ausschaltung der Massen Politisches zu Hilfe ruft. Denn immer noch, wenn die arbeitende Klasse durch gute Fütterung wichtig oder sogar entscheidend geworden war, hat man sie künstlich durch politische Erschütterungen, deren Sinn im Dunkeln blieb, matt gesetzt.

In dieser für den Arbeiter und alles von ihm Erreichte höchsten Gefahr hätte sich in Berlin tönend über das Land eine Stimme erheben müssen, die, gab sie nicht Mittel zur Rettung an, so hätte warnen müssen: da nicht, wie Marx lehrt, der Mehrwert, den wir dem Kapitalisten erarbeiten, das allein Entscheidende ist, sondern da das riesige Mehrprodukt, das wir, große Masse des Volks selbst, für alles unnötige, heimtückisch uns von den Besitzenden anerzogene, sinnlose, großbürgerliche Bedürfnis aus unserer Arbeit schaffen müssen, Ursache zu werden droht, einen Krieg, letztes verbrecherisches Mittel schrankenlosen Verbrauchs vorbereiten zu müssen, erklären wir allem Mißbrauch um so begeisterter Generalstreik, als wir noch früh genug einsehen, er war das Einzige, das uns, wehe den schreibenden Schelmen des Juste milieu! – mit den Profitjägern unlöslich verband.

Etwa wie es in meinem Schauspiel „1913“ (im gleichen Jahr geschrieben und vom Juste milieu an rechtzeitiger Aufführung durch Zensurverbot, dann am durchschlagenden Erfolg gehindert) stand:

  • Christian Maske (zu seiner Tochter): Was sagst du zu einem Streik der Konsumenten?
  • Sophie: Aus welchen Ursachen heraus?
  • Maske: Aus einer sittlichen Forderung. Jeder Verbraucher spart ein wenig, nur einen Schuhknopf, einen Nagel, ein Stück Papier.
  • Sophie: Warum sollte er, da wir sie immer billiger produzieren?
  • Maske: Weil ihm der Dreck über denselben Leisten, den wir ihm aufhängen, endlich zum Hals heraushängt, weil er vielleicht wieder einmal Anständiges in der Hand haben und sich mit ihm beschäftigen will. Weil der massenhafte Verschleiß aller Lebensutensilien ihn erzogen hat, auf einzelnes nicht mehr zu achten, und er Gefühle, Urteile und sich selbst wie das übrige verbraucht und ihnen keine Qualität mehr geben kann. Weil ihn das in tiefster Seele endlich ekelt. Wie oft habe ich euch gesagt, laßt neben dem rastlosen Nachdenken, wie man vom gleichen Artikel in derselben Zeit das Doppelte und Vielfache herstellen kann, in allen Betrieben Laboratorien darüber arbeiten, wie gleichzeitig die Materie verbessert würde.
  • Sophie: Man kann nicht mit zwei Prinzipien arbeiten, die einander widersprechen. Wir dringen auf Simplizität. Massen-, nicht Maßgeschäft. Alles Besondere ist uns Greuel, da es aufhält.
  • Maske: Und ein unglücklicher Krieg?
  • Sophie: Man wird sehen. Ich habe keine Angst.
  • Maske: Nach uns Zusammenbruch! Wir sind reif!“

Oder wie Sturm es in tabula rasa ausspricht, nach dessen Aufführung mich der Rezensent des „roten Tag“ den köstlichen Komiker Sternheim nannte:

„Meinen Weg gehe ich weiter; warne und beschwöre die mir anvertrauten Massen durch Wort und Schrift vor den Ködern, die ihnen die kapitalistische Bourgeoisie legt. Suche sie zu behüten vor dem Verlust ihrer elementaren Stoßkraft durch Annahme einer Halbbildung, die sie weiter begehrlich und unentschieden macht. Halte sie in Mißtrauen gegen Volksschulen in Sandstein und Mahagonihölzern, in denen man allen Lehrstoff großbürgerlich fälscht, gegen Kasernen mit Sprungfedermatratzen und Wasserspülung, den Aufenthalt in Marmorsälen mit Wagnermusik durch ein verstärktes Symphonieorchester bei einer Tasse Kaffee in Meißner Porzellan für fünfzig Pfennig.“

Offiziell verlautete nichts derartiges. Meine Veranstaltung aber blieb infolge gegnerischer Maßnahmen anonym, und die gleichen Arbeiter, die dem Kapitalisten den verschwenderischen Verbrauch des Mehrwerts so übelnahmen, daß sie darin die einzige Wurzel andämmernden Elends sahen, verargten sich die eigenen immer grenzenloseren Ansprüche nicht im geringsten und lebten ohne innere Richtung drauf los.

7

Auch als im Sommer neunzehnhundertvierzehn Krieg feststand, mochte niemand auf nichts, keiner auf das in Frage stehende deutsche Weltgeschäft, das alle Teller füllte, verzichten. Noch immer wollte niemand anderen Geist, hatte keiner Argwohn gegen ein ganzes System.

Gerade in Berlin blies Volk auf allen Seiten gehäuften Kriegserklärungen Tusch. Nur den überall gesteigerten Umsatz sah man voraus. Auch Menschen waren so massenhaft auf Lager, daß ihr wahrscheinlich enorm erhöhter Verschleiß zuerst nur allgemeines wohliges Aufatmen auslöste. In keiner Branche kam es Deutschland auf Millionen an. Davon lagen zu viel ungezählte vorrätig, und man wußte nur, je größer Umsatz um so besser Profit und so höher Lohn für Weiterarbeit.

Mit Hymnen und Gebrüll blähte man Backen, bewies mit Tabellen, Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Grund reichlich vorhandenen Zahlenmaterials Deutschlands unbedingt sicheren Sieg in kurzer Zeit, addierte und multiplizierte selbstverständliche Erfolge.

Als Armeen gesunder kraftstrotzender Soldaten aus Berlins Toren hinauszogen, Unmengen blitzender Waffen, Schieß- und Lederzeugs, Gefährte aller Art den Blicken begeisterter Zuschauer gezeigt wurden, sah Berlin, was es fieberhaft in Jahrzehnten auf Vorrat gearbeitet hatte; daß und wozu es gut war.

Im höchsten Glanz aber stand das Juste milieu, und die von ihm in alle Teile des Reichs hinausgeschmetterte Parole von großer Zeit war noch durchaus nicht der Witz, der sie wurde. Für solches Ziel hatte es alle Parteien, Sozialdemokraten und Konservative arbeiten lassen, weit wichtiger als Klassenkampf war jetzt Beweis, unter seinem geistigen Kommando war es aller Welt in Deutschland so gut gegangen, daß über täglich notwendigen riesigen Bedarf noch solcher Reichtum prachtvoller militärischer Aufmachung hatte berettgestellt werden können.

Und wer konnte aus dem Gesetz natürlicher Notwendigkeit allen Geschehens ihm Vorwürfe machen? Im Gegenteil bewies auf Bestellung ein Privatgelehrter den Genius des Kriegs.

Wer lachte da?

Ein Abseitiger, der in einem Schauspiel gerade in diesem Augenblick behauptete, von ihren Führern sei die Nation planmäßig in all ihrem Vermögen geplündert und könne vielleicht nur durch einen verlorenen Krieg zu ihrem besseren Gewissen gerettet werden. Unter allseitigem Beifall zischte man den Satiriker zum Land hinaus, und dreiundneunzig Intellektuelle bewiesen gegen ihn des Deutschen und des Berliners an der Spitze heilige geistige Rechtschaffenheit.

Sofort war auch im Krieg Statistik entscheidend. Tagesberichte, die man in Berlin bei Champagner und Austern las, betonten die hohe Zahl der feindlichen Gefangenen, Verwundeten und Toten. Regeldetri wurde allgewaltig, und wer das Einmaleins am Schnürchen wußte, war Haupthahn in Berlin. Begeistertes Kriegsgeschäft machte man von da aus in Einheitsfront auch gegen die eigenen Landsleute mit nie dagewesenen Überschüssen, eskomptierte in der Einbildung schon die nur besetzten Gebiete, rechnete Gewinn auf Jahrzehnte hinaus aus, und innerhalb himmlischer Übereinstimmung ging Streit zwischen den Parteien nur um das Teil, das jede an der kalkulierten immensen Beute haben wollte.

Prompt entsprachen Wissenschaftler und Dichter nach wie vor dem allgemeinen Begeisterungstaumel, und auch der von Theologen mächtig angezogene Gott enttäuschte nicht und ließ seine lieben Berliner mit protzigen Schlagworten, in denen schon hübsch hebräisch vorkam, noch eine Zeitlang aus unerhörter Konjunktur reich und gutes Muts sein.

Der Berliner, von seiner blitzschnell aus Kriegsbedürfnisse umgestellten Arbeit heimkommend, hielt es für natürlich, ihm wurden vor dem Schlafengehen je einige tausend feindliche Tote gemeldet, und gemäß seiner Überzeugung, er habe für den Krieg konkurrenzloses Material gebaut, war er auf nichts als dessen tadelloses Funktionieren neugierig. Nur Nachricht glänzender Leistungen der Geschütze, Flugzeuge, Unterseeboote interessierte ihn, die, waren sie nicht unter seinen Augen fabriziert, seiner geistigen Verantwortung ihr Dasein verdankten.

Berlin und sein Juste milieu, das, soweit es konnte, riskiertem Kriegsdienst an der Front Beschäftigung in der Heimat vorgezogen hatte, wollte, da der Krieg sich nicht in seiner Nähe abspielte, trotzdem keinen Augenblick auf die geistige Herrschaft über ihn verzichten. Es war klar, draußen im Schützengraben, im Biwak unter Sterngeflamm konnte, da Zeitungen ihn nicht regelmäßig erreichten, der einfache Mann mangels täglich korrekter Einstellung in den vorgeschriebenen Geist der großen Zeit von Dingen zu träumen beginnen, die von durch fast hundert Jahr bewährten Wegen abführten und gefährliche Visionen schufen.

Also fabrizierte es aus hurtigen Federn der Kriegsberichterstatter, Reporter, Spezialkorrespondenten, zu wirklichen Ereignissen einen in vielen Millionen Exemplaren gedruckten und verbreiteten Parallelkrieg, in dem alles zum Entzücken klappte, und der, unbekümmert um anderes Ahnen in Kriegerbrüsten, fortan als einzig vorschriftsmäßig sich abspielender Krieg existierte und mit erdenklichen Mitteln in der Gläubigen Hirne festgestampft wurde.

Die Erschaffung dieses anderen, aus den Fingern gesogenen aber einzig offiziellen Weltkriegs, der täglich vom Wolffschen Telegraphenbureau ausdrücklich bestätigt wurde, ist Berlins alleinige und, wie ich zugebe, überhaupt gewaltigste Leistung, über die S. M. der Kaiser, wie der Berliner Lokalanzeiger meldete, mit diesem wörtlichen Dank an die Kriegsberichterstatter quittierte:

„Guten Morgen meine Herren! Ich mache Ihnen mein Kompliment! Sie schreiben ja famos! Sie leisten Vorzügliches, und ich lese Ihre Artikel sehr gern! Ihre Berichte haben hohen patriotischen Schwung! Es ist von großem Wert für unsere Leute im Schützengraben, wenn wir ihnen solche Sachen schicken können. Und nun noch eins, merken Sie sich das, meine Herren! Mein Grundsatz auch für diesen Krieg ist das Wort des alten John Knox, des Reformators von Schottland: „ein Mann mit Gott ist immer in der Majorität’.“

Auf Grund der fixen Idee eines von Deutschland gepachteten Gottes war auch des Reichs oberste Spitze wie seine Berliner noch immer von dieser einzigen Wahrheit durchdrungen, in jeder Lebenslage kam es auf Majorität, die höchste Nummer an, und sofort schuf sie einen Rekord verliehener eiserner Kreuze.

Was tat es, daß bis zum Dach aufgespeicherte Vorräte durch sinnlosen Verbrauch allmählich zu Ende gingen? Man entdeckte im Gegenteil, in einem Land und bei einer Bevölkerung, der es seit langem nicht mehr auf Qualität, nur auf Quantität ankam, konnte wenig Gutes mit viel Wertlosem noch zu kolossalen Lagern gestreckt werden.

Berlin mit an ihm schon bekannter Entschlossenheit schickte auf neuen Befehl sich wie ein Mann an, wie es vorher der Nation geistige Nahrung gefälscht hatte, auch seine leibliche in großem Stil zu zersetzen, damit nur nicht eines Milliardenumsatzes Ziffer gedrückt würde.

Mit Sand, Gips, Kreide und Holzmehl wurden Backpulver, Wurst- und Fleischkonserven, Butter und Milch mit Strömen Wassers gestreckt, jedweder Unrat lief in alle Nahrungsmittel, und während Führer und Geführte draußen bei erträglicher Nahrung Ruhm und Orden in Menge erwarben, verdiente das führende Berlin mit Kettenhandel, Hamsterei und Schleichhandel, während die ärmere Bevölkerung Hunger litt, amerikanische Vermögen und durfte sich in seiner Leckerbissen Anpreisungen noch die Ironie leisten, mit eines Salatölersatzes Konsum trage jeder zum Durchhalten unvergleichlich preußisch-berlinischer Weltanschauung bei.

Mein auch hiergegen eingelegter Protest „Posinsky“ wirkte in weiten Kreisen Berlins peinlich. Fatal seine des Hamsterers mit zu großen Worten veranstaltete Verherrlichung: „Postnsky schnaufend und schmausend las zu seinen Mahlzeiten bunte Schilderung der Brotaufstände, kilometerlanger Kartoffelpolonäsen und genoß, seines chemischen Aufstiegs aus seinen Vorräten gewiß, der Nachbarn Verlegenheiten durch Hinausschauen aus dem Fenster auf des Quartiers umliegende Konsumläden. Das allgemeine, begeisterte, europäische Darben dünkte ihn treffliche Erziehung zu seinen Grundsätzen hin. Endlich schien an Stelle der Metaphervergötterung des Leibs krasse Notdurft überall das erste Kredo menschlicher Natur. Selbst eine von knatternden Phrasen bis zum Bersten geschwollene Presse mußte ihres Raums Dreiviertel Fragen des hungrigen Magens einräumen. Wichtiger als ,Rätsel der Weltenseele' und Kritik aller Offenbarung, blieb ein Rezept, aus Brennesseln und Unkräutern schmackhaftes Gemüse zu machen.

Vor ihm in rosiger Dämmerung lag nun Welt wie eine einzige prangende Wiese, in der nur noch saftiger Gräserduft hyazinthisch zum Himmel roch.

Er aber, ein gewaltiges und sicheres Stück Vieh, würde bis an seinen letzten Tag hindernisfreie Steppen durchweiden.“

Die Posinskys bei Kempinski und im Kaiserkeller, die in schmalzduftenden Hallen dieser Restaurants Delikatessen aus Ersatzstoffen stopften, fanden, erst jetzt lohne Leben, da immer noch Umsatz stiege und Bankdepots schwöllen und wurden Vorbild nach rechts und links. Ein schmales Juste milieu, das politisch vor Kriegsausbruch die Farben des „Freisinns“ (um nicht zu sagen „Frohsinns“) und „Fortschritts“ gehabt hatte, bekam auf der Höhe seiner Macht massenhaften Zulauf von allen Seiten und wurde wie Posinsky selbst über die Maßen fett.

Neunzehnhundertsiebzehn reichte es vom Grunewald bis zur Jannowitzbrücke, vom Kreuzberg bis zur Ackerstraße, und höchstens an der Peripherie gab es einige Radikale, die nicht mehr auf den Hauptmann von Köpenick hereingefallen wären, sondern von blauer Blume oder roter Fahne träumten.

Kriegswitwen und Kriegsbräute arbeiteten mit Kokotten um die Wette, und in der Landgrafen- und Hohenzollernstraße jobberte ahnenstolzes Blaublut mit Kuhn und Kohn um die Wette. Aus Generalversammlungen bei Adlon und im Kaiserhof, später von Diners bei Borchardt und Hiller flatterte, Geschrei von Fronten überdröhnend, erster Alarm wieder gesteigerter Dividenden und neuer Bezugsrechte zu hundert Prozent in den Abend hinaus, die die Champagnerbegeisterten noch auf Klubfauteuils in Reinhardts Kammerspielen, wo der stilvolle Regisseur für distinguierte Verdauungen sorgte, freundlich umgaukelten.

8

Stillos war es von einem gewissen Pfemfert, etwas später in der „Zukunft“ auch von Maximilian Harden, in einer kleinen Wochenschrift „Die Aktion“ den Berlinern die allgemeine schmatzende Verdauung der Kriegsgewinne zu stören. Nicht laut. Dazu reichte weder der Zukunft noch des Blättchens Echo. Doch so, daß die am wollüstigsten Schnaufenden erstes peinliches Nebengeräusch hörten.

Unerhört dazu, wie er die Reichstagssozialisten, die ihm seit Tagen der Kriegserklärungen und ihrem Entgegenkommen bei Bewilligung der Rüstungskredite verdächtig waren, durchaus nicht mehr als Rebellen behandelte.

Diese Partei, die unter dem Vorwand einer Emanzipation des vierten Standes vierzig Jahr lang nur Machtgelüste ihrer Führer unter der Devise „Auslese der Tüchtigsten“ befriedigt, sonst aber das Proletariat vom Umsturz fort auf bürgerliche Instinkte geleimt hatte, bekannte, im August 1914 vor die Entscheidung gestellt, Farbe, als sie zwanzig Millionen Arbeiter, die man im Weigerungsfall nicht an die Wand hätte knallen können, gegen ihre schaffenden Brüder jenseits der Grenzen marschieren ließ und abermals am vierten August auf der zweiten sozialistischen Internationale in Bern, statt gegen gewollten Mord von Millionen Faust auf den Tisch zu hauen, aus Rücksicht auf den auch für den Arbeiter aus dem Großgemetzel zu erhoffenden Gewinn und Brotaufstrich opportunistisch patriotischen Schleim kochte.

Hohes Verdienst war es, aus den mit vollendeter Verlogenheit geheulten revolutionären Phrasen der Sozialisten schon damals das Weserlied und die Nationalhymne herauszuhören, als nach abgekartetem Plan die Regierungspresse, das Juste milieu und das Hauptquartier Seiner Majestät diese Sozialisten für ein blödsinniges Publikum noch als finstere Umstürzler behandelte und über ihre zahmen Proteste Zetermordio schrie. Dieser beiden Publizisten schneidige Geste, immer wieder aus Sirup, der Deutschland betropfte, auftrumpfend, blieb im Krieg die stärkste sich gegen ein Begeisterungsdelirium auflehnende Natur.

Nicht nur der Alldeutschen Irrsinn prangerte die Aktion oder solche Verse Gerhart Hauptmanns an:

Komm, wir wollen sterben gehen,
in das Feld, wo Rosse stampfen,
wo die Donnerbüchsen stehen,
und sich tote Fäuste krampfen.

Lebe wohl mein junges Weib
und du Säugling in der Wiegen,
denn ich darf mit trägem Leib
nicht daheim bei Euch verliegen.

Diesen Leib, den halt ich hin
Flintenkugeln und Granaten;
eh ich nicht durchlöchert bin,
kann der Feldzug nicht geraten.

(obwohl er nicht ins Feld zog und nicht durchlöchert wurde) und nicht nur das Entsetzlichste aus liberaler Presse wie diesen Erguß des L. Persius im Berliner Tageblatt:

„Jedenfalls bedeutet die Leistung unseres Unterseeboots – Versenkung der Lusitania, auf der 1500 Passagiere ertranken – ein Glanzstück erster Ordnung. Ein Riesenschiff, die Lusitania verdrängt 41400 Tonnen, hatte eine Registertonnage von 31550 Tonnen, ist 233,3 m lang, 26,8 m breit und hatte eine Raumtiefe von 17,3 m, wurde von einem David, der wenige hundert Tonnen mißt, zerstört. Ein Torpedoschuß im Wert von 12000–15000 Mark vernichtete zahllose Menschenleben, ein Schiff, dessen Bau und Ausrüstungspreis etwa 70 Millionen beträgt!“

Sondern sie sorgte vor allem dafür, daß die noch nicht in vorgeschriebene vaterländische Umnachtung gefallenen Hirne auch von Wortführern der Sozialdemokratie darum keine Befreiung mehr aus infekter Weltanschauung unter keinen Umständen hoffte, weil sie in zahllosen Veröffentlichungen Wege und Ziele dieser Konjunkturrevolutionäre dem Programm des Juste milieu identisch zeigte.

Aber wenige wollten von alldem wissen, und die in sanft einsetzenden Hungergefühlen nur noch mehr wippende Reporterphantasie schwemmte mit immer größeren Kübeln Druckerschwärze die etlichen Warnungen fort.

Niemand von uns hat dem Kaiser und Ludendorff ins Herz gesehen, als sie noch in letzten Wochen vor dem Zusammenbruch Rauschgesänge in alter Tonart anstimmten, ob sie schon bewußt oder bewußtlos wie früher, vom Juste milieu mit Bässen und Posaunen unterstützt, ihr Siebenzigmillionenvolk belogen. Ob sie noch Honig auf Lippen oder schon den Durchbruch der Gedärmeinhalte in die Hosen spürten.

Berlin war jedenfalls noch bis zum Ende keß und wie einer mit sich zufrieden, der längst kein Schicksal und keine Vorsehung mehr, aber anständige Abrechnungen seiner Hauptbuchseite kennt.

Noch immer nagelte es seinen eisernen Hindenburg und glaubte, wie auch die Sache jenseits von Geschäften ende, ganz großen Rebbach und für Jahrzehnte garantierte Zinsen in der Tasche zu haben.

Wie wenig in Berlin die große Allgemeinheit auch nach 1917 eine Änderung des Bestehenden wollte, bewies der naive Beifall, den die einem durch Revolution endlich befreiten Rußland von deutschen Unterhändlern in Brest-Litowsk abgepreßten räuberischen Friedensbedingungen in hauptstädtischen Zeitungen jeder Richtung auslösten und die schwärmenden Feuilletons, die das abgenickte Rußland als fettes Schwein, das Deutschland schlachten müsse, malten. Allen Nationalökonomen von Ruf entschäumten hinter Kathedern Programme, die für Rußland scheußlicher als die schofelsten Pogrome waren.

Als daher Wilhelm II., Hindenburg und Co. nach letztem Bluff versagten, war Berlins Verblüffung so kraß, daß es wie ein schlachtreifer Ochse den Schlag ins Hirn empfing, und am 9. November 1918 leerer Sack für tot in einen Winkel fiel, während deutsche Revolution unter Führung Kiels vom Stapel lief.

Da, in einer Welle Aufruhr für Freiheit und Vernunft, die durch die Deutschen fuhr, hätte viel und mit einem Schlag geschehen können, wäre man sich im Reich der Schmach bewußt gewesen, die Berlin und der in ihm regierende Geist des Juste milieu seit Jahrzehnten als immer stinkenderes Spülicht über das Land gegossen hatte, und hätte man die fette schleimige Schnecke, die wie verreckt in ihrem Haus lag, im Auge behalten, daß sie sich nicht rührte, während man zu vollstrecken suchte.

Aber, was geschehen mußte, lag klar vor niemandes Auge. Auch dort, wo man in der Provinz nicht unmittelbar unter des Weichtiers Berlin eiternden Drüsen gelegen hatte, war man in klebrigen Schleim, der Kanäle durch das ganze Land geätzt hatte, so verstrickt, daß durch Sekrete, die den Blick verschmiert hielten, keiner ein Ziel sah.

Ein Sozialismus, der nur von Besitzgütern und Kapital, Geld und Geldeswert, von Zahl und Ziffer und von sonst nichts in der Welt geschwärmt und gebrüllt hatte, erwies sich als reines Negativ und hatte in einem Augenblick alle Schwungkraft eingebüßt, wo die Klassen, denen man Besitz hatte abnehmen wollen, in nichts als Bergen so unübersehbarer Schulden standen, daß, ihre Erbschaft anzutreten, nicht nur nicht verlockend war, sondern Furcht und Entsetzen einflößte.

Denn jedem, der eine Spur Verstand und Rechtlichkeit bewahrt hatte, stand fest, Übernahme dieser drohenden Schuldenlawinen konnte nur mit der Absicht von irgendeiner Regierung versprochen werden, sich der Bezahlung im Lauf der Zeit mit gleichen Ränken, die in kapitalistischer Gesellschaft gang und gäbe sind, zu entziehen, während es in neuer Weltordnung doch darauf ankommen sollte, in allen Sparten öffentlichen Lebens reine Wahrheit zu sagen.

Diese Erkenntnis war für entschlossenes Handeln schon Hemmung, ehe die Wenigen, die wirklichen Einblick in das Chaos bekommen wollten, sich gestanden, auch sonst sei in fünfzig Jahren nicht das Geringste geschehen, in Deutschland Boden für eine Umwälzung zu schaffen, die, sollte sie mehr als Übergang gleichgearteter Macht aus Händen einer Klasse in die der anderen sein, deutscher Menschen Geist bis in sein Mutterland für andere, zeitgenössische Begriffe hätte durchpflügen müssen als für die eines nichts als Geschäfte machenden Juste milieu: innerhalb an sich vernünftiger Notwendigkeiten sei der Mensch qualite négligeable.

Besonders da niemandem entging, in welch anderer, unvorbereiteter Lage der Deutsche in diesem Augenblick als der Franzose 1789, der Russe 1917 in Momenten ihrer Revolutionen war. Da und dort hatte eine Phalanx Begriffszertrümmerer Jahrzehnte vorher verkrachte Vorwände herrschender Gesellschaft aus Fugen gesprengt, bis sie schließlich, nur lose gestützt, nach Einsturz lechzten. Da hatten Beaumarchais, Voltaire, Diderot und Rousseau, hatten Gogol, Dostojewski, Tolstoi, Gorki, gefolgt von unzähligen Begeisterten, ganze Arbeit gemacht, während in Deutschland, wo auch der Proletarier seiner Verwandlung zum Spießbürger schon ungeheuer nah war, nur Nietzsche sich einsam empörend geregt hatte.

In Händen von Aufrührern gingen Handgranaten und Maschinengewehre aufs Geratewohl als Ausdruck beispielloser Enttäuschung und Bestürzung, doch nicht allgemeiner Zerknirschung und besserer neuer Gewißheit los; Wut, nicht Schmerz war herrschender Impuls. Auch in verzweifeltsten Augenblicken blieb man in alter Befangenheit nur Antimilitarist oder Antisemit, wollte den Adel oder die Juden totschlagen. Da man sich über die wahren Schuldigen, die das ganze Volk waren, nicht Rechenschaft gab, wußte man nicht, wen man erledigen mußte.

Als zum Erstaunen der ganzen Welt der drohend erhobene Arm des deutschen Arbeiters mit gelähmter Faust plötzlich in der Luft stehen blieb, schrieb ich am 12. November 1918 für den Haager Nieuwe Courant:

„Seit Jahrzehnten sind Deutschlands Proletarier durch hohen Verdienst und Rentenhysterie eng den bürgerlich kapitalistischen Lebensbedingungen verschweißt und mit Überzeugungstreue gesellt. Daher lehnen sie es heute im Bewußtsein dieser Zusammengehörigkeit mit den niedergebrochenen führenden Klassen in hohem menschlichen Verantwortungsgefühl auch durchaus ab, die Schuld nicht an dem, was an einzelnen Unglücksfällen während des Kriegs (von dessen Führung sie ausgeschlossen waren), passierte, aber an der Möglichkeit seines Ausbruchs auf die Schultern einzelner, nach außen hin besonders sichtbarer Klassen abzuwälzen, sondern erkennen aus der Tatsache, daß die Zustände in Deutschland vor dem Krieg im allgemeinen und überall von jedermann als plausibel akzeptiert waren, erhobenen Haupts ihre Mitschuld dadurch an, daß die sich vollziehende Revolution keinen Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen kennt und solange kennen wird, bis nicht einzelne Gruppen den Versuch machen werden, in neue geistige Schamlosigkeiten fortzubrechen und sich dem allgemeinen Aufschwung zu entziehen.“

Dieses Aufsatzes Übersetzung ins Deutsche hätte nicht in zehntausend Exemplaren in der Aktionsbibliothek, aber in Hunderttausenden als Flugblatt geschehen müssen. Vielleicht hätte es die unschlüssigen Deutschen mit veranlaßt, auf die Gruppe Berlin, auf das einen Augenblick feige Schleimtier streng zu achten, das in eine Atmosphäre bestürzten Zögerns schon wieder Fühler reckte.

9

Mehr hatte ich politisch 1918 nicht sagen können. Bis zu einem gewissen Grad war auch ich wie alle Deutschen im Öffentlichen dem Geist des Juste milieu, der mich geboren und erzogen hatte, und dem ich mich nur mit ungeheurer Anstrengung zu entziehen begonnen hatte, unterworfen, und hatte ich auch seit Jahren vernichtende Kritik des Bestehenden geübt, war mir außer auf meinem besonderen Gebiet volle Gewißheit des Besseren noch versagt.

Nichts Wirkliches hätte ich damals behaupten, meine Einwände nur als gerechtfertigt beweisen können, was zu wenig war. In gleichen sozialistischen Schlagwörtern, die alsbald alle Luft verpesteten und verfinsterten, hätte ich pompösen Lärm schwatzen und mit einer Weltanschauung ad hoc mich blamieren können.

Das überließ ich Berlin und versuchte, mit Armen und Beinen rudernd, Kopf aus dem alles verstopfenden Schlamm zu heben, nicht um mich weiter in spezifisch deutschen Klassengegensätzen zu orientieren, sondern vor dem wahrhaftigen Zeitgeist, der jetzt oder nie sich verkünden mußte, mich zu demütigen. Bis er manifestierte, hoffte ich, würde in Berlin ein reinigendes Vakuum, ein Purgatorium einfallen.

Es hätte etwa, war von dem ausgemergelten Mann durchaus nichts zu hoffen, die Frau in einem für sie wie noch nie günstigen Augenblick auftreten und das erlösende Wort, ihren mitmenschlichen Befehl sagen müssen, der sie für immer neben dem Mann beglaubigt und sie aus hergebrachter Abhängigkeit von ihm mit einemmal befreit hätte. Sie konnte dieses Männerkriegs erbärmliches Fazit mit gütiger oder verwünschender Gebärde ziehen, bis zum Eintritt neuer Ordnung mit dem Gebärstreik drohen oder in totale geistige Leere ein steiles Denkmal weiblicher Hilfsbereitschaft stellen.

Aber nur mannigfaltiger und grenzenloser prostituierte sie sich in Straßen Berlins, aus denen sie die von Fronten Zurücktatternden in ihr Bett zu völliger Auflösung schleppte.

Ein Schwärmer hätte vor dem Reichstag oder sonstwo gewaltig auftreten können, der die summenden Massen mit baumstarker, süßer Hoffnung berauschte, sie in ein Meer himmlischen Vergessens badete und in Nebeln der Zerknirschung untätig hielt, bis erstes Licht am Horizont erschien.

Aber Berlin hatte es eilig. Vernünftige Weltgeschichte drängte. In einem Konkurs, wie er noch nicht da war, standen dennoch Abermilliarden auf dem Spiel! Das war der erste neue Einfall, den Deutschlands geistiges Zentrum hatte: wußte man plötzlich nicht mehr, daß auch mit Pleiten Vermögen zu gewinnen sind?

Hier war, da konnten Eiferer wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nicht lange gegen an, dennoch Geschäft! Und wie im ersten Trubel sich Köpfe aus verschiedenen Lagern einander blutig geschlagen hatten, hier stieg aus ungeheurem Aas sogar berauschend der Wrasem nicht zu knappen Verdiensts schon wieder auf. Und von allen Seiten begann man der Nase nach dem so vertrauten Duft zuzuströmen, und was im Weg stand und mit Verlegenheiten drohte, einfach totzuschlagen.

Ehe ein Hirn noch zu Ende gedacht hatte, ein Gewissen bis in Tiefen erschüttert war, wußte Berlin schon wieder, noch immer ließen überkommene Gesetze sich auf neue Verhältnisse biegen, die vielleicht mit den alten Methoden erst gründlich sondiert, nicht gänzlich verzweifelt waren. Und schließlich – wo war in so vollständigem Fallissement noch ein Risiko? Zu verlieren war gar nichts mehr. Alles zu gewinnen!

Das war doch, bedachte man's recht, vielleicht überhaupt erst die Lage, in der des Juste milieu Praktiken, als in kompleter geistiger Finsternis der zu Befruchtenden, allmächtig werden konnten. War man vor dem Krieg nicht eigentlich durch Übersättigung der Konsumenten in viel peinlicherer Lage als jetzt gewesen, und stand man mit einer Parole „Wiederaufbau“ und „größtmöglicher Vermehrung der Produktion“, die jetzt den Anschein eines Notwendigen hatte, nicht unmittelbarer als je natürlicher Wahrhaftigkeit nah?

Ließ sich der ausgetretene Balg nicht besser als mit Kapuzinerpredigten, Insichgehen und vor allem schneller und leichter über das Sprungbrett „eiserne Zeit“ zu neuer Arbeitshast und Leistungsrekorden aufpeitschen? War es nicht geradezu verbrecherisch, Verlorenem eine Träne nachzuweinen, Gehabtes zu beklagen, statt mit höherem Elan an die noch nicht erkalteten Maschinen zu springen?

Parole scholl! Von links nach rechts dröhnte es: die Druckpressen, die verschnauft hatten, aber in denen das alte Öl noch stand, legten mit einem Surren in Fortissimo los, das alles seufzende Nebengeräusch erschlug. Die Tintenfässer der alten Garde wurden neu gefüllt, die verschüttetsten Greise aller falliten Betriebe hüpften aus Säcken, mit denen sie dekorativ die Lenden gegürtet hatten, ans Licht und ans Stehpult, und ehe sichs Deutschland und eine Welt erbleichender Feinde versah, war in Berlin ein tadelloser neuer Start geschehen, bei dem die alten Renner schon wieder in flottem Lauf zum unveränderten Ziel lagen.

Es versteht sich, Ladenschild und Briefköpfe der alten Firma, die die Zahlungen eingestellt hatte, waren geändert. Bombastisch schlug man die Affiche „Republik“ an.

Bei der Wahl des Präsidenten und der Prokuristen der neuen Handlung war es natürlich, man kam vorzüglich den Wünschen der Teile des Publikums prompt entgegen, die fortan die meisten Kunden stellen sollte. Da die Firma offiziell als eine für Volkswohlfahrt und üppige Bedürfnisse der breitesten Massen gedacht war, wählte man freundlich behäbigen Durchschnitt als Repräsentanten, Männer, die ohne Gefühl für Distinktion – denn alles ist Kundschaft – in großen Kaufhäusern hinter Eingangsglastüren in drolligen Gehröcken mit empfehlenden Handbewegungen und einigen einstudierten Phrasen in des Hauses verschiedene Rayons weisen. In den Ressorts selbst aber waltete weiter das alte Personal, das Fachkenntnisse und Haare auf den Zähnen hatte und strikt Versuche der Geschäftsleitung, sich irgendwie im Betrieb geänderten Bedürfnissen des Publikums anzupassen, sabotierte.

Man hätte erwarten dürfen, die wirklichen, nach wie vor anonymen Leiter des abermals riesig angeschwollenen Juste milieu, das jetzt vom linken Flügel der Konservativen bis zum rechten Flügel der Kommunisten reichte, so daß nur altes feudales Blaublut und die „Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands“ draußenstanden, hätten ihre in die höchsten Reichsposten vorgeschobenen Strohmänner in anbetracht der Wichtigkeit der Sache so gewählt, daß die beim Mangel jeder inneren Eignung für ihre Plätze und verblüffendem Minus persönlichen Verantwortungs- und Taktgefühls doch so viel äußere Haltung, nicht schofel zu wirken, mitbrachten.

Aber berauschender Machttaumel und die ganz unwahrscheinliche sublime Überraschung, trotz solchen Pechs und historischer Widerlegung sei es möglich gewesen, Deutschland, die alte Schaluppe über alle Stürme flott zu halten, machte die wahren Geschäftsinhaber so zynisch frech, daß sie die Stirn hatten, sich zu gestehen: nicht mehr wie unter dem alten Regime brauchen wir auf Regierungssesseln eine von uns beeinflußte aber an sich sehr wesentliche Vertretung, sondern wir setzen das in unserer Presse durchgeführte und bewährte System der Sitzredakteure, die verantwortlich zeichnen, von der Größe ihnen anvertrauter Wirklichkeit aber keine Ahnung haben, genau so für die Regierungsrepräsentanz in Szene, wie es für den anderen Teil der Exekutive, die parlamentarische Volksvertretung im Reichstag und die geschobenen Abgeordneten bisher im Schwung war.

Man führte einfach die in Geschäften erprobten Methoden auch in allen Ämtern ein, schob, log, betrog über Angebot und Nachfrage, daß keines Geschehens oder Behauptung Gegenteil mehr stimmte, und sich weder der Lügner noch der Betrogene im geringsten auskannte, nur um kostbare Zeit auch über einige nicht zu vermeidende Putsche ernstlich erbitterter Volksteile hinaus zu gewinnen, dem hungrigen Handel und der Industrie die ersten Rohstoffe wiederzuschaffen, in deren flink zusammengehauene Fertigfabrikate man einen noch sanft murrenden Pöbel so schnell wie möglich wieder einwickeln wollte.

Zu diesem Trieb schwieg jede andere Regung des Berliner Juste milieu, sich in ihm über Streit und Gemeinheiten mit dem kapitalistischen Mob aller Länder einig wissend, der unter der Firma „Völkerbund“ sich auch gerade zur Betäubung der durch den Krieg rumorenden Massen mittels Erfüllung ihrer übertriebenen Lebensansprüche als Zentralgenossenschaft zusammenschloß.

Schon tauchte in Hallen und Lifts der großen Berliner Hotels jene Spezies in Scharen wieder auf, die unter smarten Gentlemans Maske mit dem Tausendmarkschein in gerollter Faust Maschen der Gesetze durchschwimmt, und deren Pässe durch willfährige geschäftstüchtige Beamte mit Visas und Stempeln nach Belieben bedruckt sind, die aber auch bei Gelegenheit das silberne Besteck, mit dem man sie bei Tisch bedient und anderes tragbares Inventar des Hotels mitgehen heißt.

Schon tummelten sich Trupps gewesener Exzellenzen, Staatsekretäre, Stabsoffiziere und anderer Würdenträger, an umgestelltes Wirken Anschluß zu gewinnen, zog das Weib aus besseren Kreisen wieder battistene Hosen und seidene Strümpfe an, und Ullsteins Schnittmuster in der „Dame“, Toilettentips der „eleganten Welt“ wurden, soweit man „Vogue“ nicht vorzog, wieder wichtiger als Otto Rühles und selbst Lenins Manifeste.

Es lernten Minister aus dem Volk mit Nagelfeile, Polierer und dem Bidet umgehen, das sie schon vom ähnlichklingenden Budget trotz aller Witze im Publikum über sie unterscheiden konnten. In schwarzem Rock, mußte es sein, in der Badehose repräsentierten sie für die neue Republik ausreichend. In allen Reichsämtern begann man sogar die Zufuhr kalter Luft in Schränke, in denen Lackschuhe standen, zu schätzen, und nach läßlicher Arbeit für das Staatswohl wurde ein Aufenthalt in St. Moritz schon in Betracht gezogen.

Dichter begannen wieder, ihre Schlaganfälle dem Berliner Tageblatt zur Veröffentlichung für einen kunstverständigen Leserkreis mitzuteilen, es starb kein Geheimrat und kein Mime ohne Nachruf mehr, und der glatzköpfige große Schieber, den wir alle kennen, fuhr im Auto wieder in seine Grunewaldvilla.

Schon setzten sich die Absteigequartiere instand, legte die Nutte vom Kurfürstendamm das erste Rot auf, stellten Kellner bei Hiller den frischeingetroffenen Sekt kalt und die deutsche Havannazigarre „Ehrensold“ bereit, und abermals stand „Kampf ums Dasein“ neue „Auslese der Tüchtigsten“ „Aktivismus“ in Berlin an der „natürlichen Entwicklung“ Hähnen, begann ein demokratisch sozialistisches Berlin mit dem Motto: Volldampf voraus, durch Nacht zum Licht! seinen neuen „Platz an der Sonne“ zu suchen.

Eventuellem Mißlingen des Versuchs die historisch wissenschaftliche Rückendeckung zu geben, nahm man vorsichtshalber offiziell und in der Presse noch eine Epoche allgemeinen Niedergangs an, und O. Spengler bewies zahlreichen Abnehmern geistreich und für alle Fälle den Untergang des Abendlands, in zwei dicken Bänden, den Band für 120 Mark in Leinen gebunden.

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Daß etwa der Staat des „Untertan“, der „Maske“ zur Katastrophe reif gewesen sei, sei eine Phrase ohne Hintergrund – denn welches Volk, fragt Gottfried Benn, mein guter Kamerad in seiner letzten Schrift, sei dazu weniger reif gewesen?

Gewiß war mit Deutschland ganz Europa zu einer Katastrophe vorbestimmt, aber die mußte nirgendanderswo über dem Zusammenbruch der dauernde Zustand bleiben, weil sonst kein Volk nichts als so einseitige infame Ideologien seiner Philosophen sondern das ganze feuerwerkende Leben dazu hatte. Gewiß besaß beispielweise auch Frankreich Klischee und Kasuistik seiner Geschichte und Schlachten, manische Verblödung seiner Klassiker und der „exakten Wissenschaften“ Irrsinn. Aber es hatte Jeanne d'Arc, Stendhal, Delacroix und Henri Rousseau dazu und das kleine Mädchen, das sich beim Mondschein im Bois über dem Rasen großen Stils, mit verzücktem Blick auf das Wunder, seiner Wasche Bänder für den Geliebten aufband, weil für die Erlösten dann kein Paradigma sondern das Besondere losging, das auf Regeln pfiff, und das jetzt dort auch nach dem Krieg mannigfaltig und bunt in jeder Minute passiert.

Nur in Deutschland – hier höre einen Augenblick Menschheit her und staune, spielte und spielt sich auch heute noch wirkliches Leben nach einer von Berlin über das Reich kinematographisch verbreiteten Regeldetri so bedingt ab, daß beileibe kein Kuß ohne die ihm zugrundeliegende Idee geschieht, und Blusen- und Busenfarbe des Mädchens oder sonst des Akts spezifisches Wunder aus der Beteiligten mitgebrachter vernünftiger Besessenheit nicht in Erscheinung treten kann!

In der Kindheit hatte ich den Eindruck, es sei katholische Kirche die unbeugsamste hartnäckigste menschliche Einrichtung; später meinte ich, eher stürbe trotz Macaulay katholische Kirche als das Auswärtige Amt in Berlin mit Insassen und Methoden aus. Heute weiß ich, beides ist Spreu vor Phrasen und Gepflogenheiten des Berliner Juste milieu, das bis zum jüngsten Tag in seiner Presse Nachrichten bringen wird wie, es seien Fulda und Sudermann als Vertreter deutscher Dichtkunst vom Reichspräsidenten empfangen worden, ihm der deutschen Geistesarbeiter Not vorzustellen, und dieser habe allen Ernsts versprochen, sich der darbenden deutschen Kulturträger anzunehmen.

Und so – am Leben vorbei, daß einem Gorilla sich die Haare sträuben, wahrend die deutsche, auch revolutionäre, Seele ruhig bleibt.

Was wäre, was ist da zu tun, sind wir sicher, solches und, daß ein Schmock eine „Menschheitsdämmerung“, ein „Zielbuch“, eine „Weltbühne“ herausgibt, bleibt uns? Bliebe uns, auch wenn irgendein radikaler Terror alles bis auf ein einziges tintenklecksendes Hirn des Juste milieu, vernichtete?

Als ich Im November 1918 zum zweitenmal im Krieg aus Belgien vertrieben im Haag in Holland nachzudenken begann, was ich Greueln des Juste milieu und einem Staats- und Regierungsbolschewismus, der mir mit einer Handbewegung fast das gesamte irdische Gut geraubt hatte, aus meiner Vernunft und heiligen Überzeugung entgegensetzen könnte, als Versuchung kam, mich öffentlich zu bewähren, lehnte ich vorläufig alles als Programm der Erlösung mir Entgegengebrachte ab, mich selbst gründlicher und gewissenhafter zu orientieren.

Ich schrieb von Seite zu Seite strauchelnd „Europa“, den Roman, als Abrechnung und die größte mir mögliche Aufklärung gegen das menschenfressende einseitige Gespenst des „vernünftigen Entwicklungsgesetzes“, das Franzosen trotz Auguste Comtes Lehre von der völligen Unterordnung des Individuums unter kausale Naturgesetzlichkeit noch gerade überwinden konnten, während die Deutschen ihm, soweit sie bis dahin nicht schon weichgekocht waren, durch Hegel und Marx völlig erlagen.

Dort mag man, wie ich im einzelnen zu anderer Auffassung des Lebens als dieser spezifisch deutschen Sklavenmoral gekommen bin, nachlesen. Hierhin setze ich all dem in vorhergehenden Seiten abgehandelten Nonsens des Berliner Juste milieu gegenüber, nur das wesentliche Resultat meiner Erkenntnis des Zeitgeists:

Es ist eine Welt von Denk- und Beziehungsinhalten innerhalb menschlichen Bewußtseins so zu unterscheiden, daß Denkinhalte und die aus ihnen gewonnenen Urteile, Ewiges, elementar Notwendiges von den Erscheinungen aussagend, ohne Relation zu irgendeinem anderen, stets unverändert, statisch und an sich gelten: Baum ist grün. Wasser = H₂O.

Entgegengesetzt Begriffe, aus Beziehungsinhalten stammend, gerade nicht das Konstante, Ansich des Phänomens, sondern sein aus Bindung mit anderem und Reaktion auf anderes stets neu Entstehendes bezeichnen: dieses Kind gehorcht.

Während den Deutschen in Berlin vorgelebt und ihnen von dort aus versichert wurde und wird, auch diese Kategorien zeitgenössischer Begriffe von Ding zu Ding, vom Menschen zur Mitwelt, an sich flüssig und elastisch, seien ähnlich wie Vernunftsurteile der ersten Reihe aus dem Sinn des Augenblicks mit sittlichen und Schönheitsgesetzen (nach dem Geschmack des Juste milieu!) richtungsgemäß zu ordnen, und gerade darin habe des höheren Menschen (der „Auslese der Tüchtigsten“) Aufgabe immer bestanden, an dieser Wegorientierung seiner Epoche mitzuarbeiten und seine soziale Pflicht, sie mit sittlicher Tat und durch das Kunstwerk einfältigen Menschen anzudeuten, erkläre ich heute noch bestimmter als in meinen sämtlichen Schriften, durch den verbrecherischen Versuch irgendwie logischer Festmachung auch reiner Beziehungsinhalte ist der Europäer, vor allem der Deutsche, durch Urteile aus Denkinhalten schon natürlich in seiner Freiheit beschnitten, noch unnatürlich in der Welt erdrosselt, in der es sich nicht um ursprünglich gesetzte Schöpfung, die ein für allemal wirklich und notwendig ist, sondern gerade um die handelt, die aus sich ändernden Voraussetzungen in jedem Augenblick ganz anders möglich wird.

Diese zeitgenössische, momentane Welt aber besitzt der Mensch immer von neuem neu und unabhängig von Vernunft nur durch Kraft der Vision. Er, Mensch, Deutscher, Berliner, frei als Subjekt, das Objekt „Welt der Beziehungen“. Und zwar nach seinen visionären Fähigkeiten in abgestuften Graden jeder andere Mensch immer anders, so daß auf diesem Gebiet der Beziehungen jeder historische Vergleich sinnlos ist. Erst durch diese individuell gestufte Möglichkeit zum immer verschiedenen Besitz des „Beziehungsganzen“ ist der neugeborene Mensch mit einem eigenen unvergleichlichen Schicksal frei, das heißt ganz seine eigene Nüance!

Macht man Sozialismus, wie ihn das Juste milieu schließlich akzeptiert, bedeutet das doch nichts als die Absicht, zu Urteilen erster Reihe, die aller Kreatur als gegeben notwendig gemeinsam sind und einen natürlichen Sozialismus, keine Diktatur des Proletariats, aber eine der Notwendigkeit ausmachen, schließlich auch die Begriffe der zweiten als für jederman fix darzustellen, indem man sie in bestimmtem Richtungssinn erst künstlich knebelt und dann Massen zur Erkenntnis eines erstarrenden Prinzips auch in ihnen erzieht.

Erst durch diesen, aus Gruppenübermut propagierten Aftersozialismus, der Gemeinschaft materiellen Besitzes nur als ersten Vorwand für die als Apotheose erstrebte allgemeine Unfreiheit auf allen Lebensgebieten nimmt, wird Hoffnung auf Durchsetzung wirklich doppelter sozialer und mitmenschlicher Gemeinschaft: allgemeine Unfreiheit vor ewigen Denkinhalten (Diktatur der Notwendigkeit) und allgemeine Freiheit vor Beziehungsinhalten des Augenblicks (Freiheit des Schicksals) in Deutschland so gut wie zerstört.

Hingabe der Vernunft an ursprünglich notwendige Welt, indem man sich zu ihrem demütigen Objekt macht, bedeutet doch schon fortgesetzt Abgabe, Minderung eigenen Lebensgefühls so sehr, daß nicht verständlich ist, aus welchem Quell man dieser Schwächung gegenüber stark bleiben will, bereichert man sein Lebensgefühl nicht immer wieder durch höchstpersönliche Aufsaugung wenigstens der Beziehungsinhalte. Aus beider Seiten Gleichgewicht allein, indem man abwechselnd von wirklicher Welt besessen und mögliche Welt besitzend ist, kann man lebendig funktionieren.

Gewissen aber ist Entscheidung in mir: muß ich, eines Augenblicks tiefstem Sinn zu entsprechen, in ihm besitzen oder in ihm besessen sein? Ist Freiheit oder Abhängigkeit in solcher Lage echteres Leben? Und: wie vor funktionellem Leben Wille zur Freiheit, ist vor logischen Zwängen Unterwerfung in Unfreiheit auch noch der sittlichere Standpunkt, wie des Menschen Unabhängigkeitswille nicht Hochmut und dionysische Extravaganz, sondern Regulativ zu dem sonst über Schöpfung verhängtem, natürlichem Unabwendbarem ist.

Dichtung aber erscheint als die uns erschütternde untendenziöse und darum einzig wahrhaftige Aufzeichnung dieser immer wieder neue Kombinationen ergebenden Wechselwirkung beider schaffenden Gewalten, so daß trotz Juste milieu und des unter seinem Schuh in diesem Augenblick in der Halle des Hotels Adlon in Berlin perfekt werdenden Geschäfts zwischen zwei Gaunern, das ein Dutzend Waggons verfaulenden Weizens von Sarajewo nach Zürich verschiebt, kein Präsident der Republik Deutschland, kein Vertrag, in Versailles, Spa oder sonstwo von hurtig herbeieilenden Ministern des Juste milieu unterschrieben, aber der Dichter und sein Werk der erschütternden Epoche reinstes Gleichnis bleibt.

Grafisches Teilungselement